Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Claire die Bücherliste über den Tresen. „Die meisten Bücher konnte ich gebraucht im Campusladen kaufen, bis auf das hier, und ausgerechnet das ist so teuer.“ Charm zeigt auf einen Titel ihrer Liste. „Hast du irgendeine Idee?“
„Ich hör mich mal um“, verspricht Claire ihr. „Wann sinddeine Prüfungen? Kann doch nicht mehr lange hin sein, oder?“
„Im Mai. Ich kann es kaum erwarten“, erwidert Charm lächelnd.
„Ich rufe dich Montag an und sag dir Bescheid, ob ich etwas herausgefunden habe. Pass gut auf dich auf, okay? Und denk daran, du kannst mich immer anrufen, wenn du irgendetwas brauchst.“
„Danke“, sagt Charm, auch wenn sie weiß, dass sie Claire außer wegen Bücherfragen nie anrufen würde. Sosehr sie Claire und ihre Familie auch bewundert, sosehr sie es genießt, sich mit ihr zu unterhalten, weiß Charm einfach schon zu viel über Claires Leben. Sollte Claire jemals herausfinden, wie viel , würde sie Charm bestimmt mit anderen Augen betrachten.
Nachdem sie am Supermarkt angehalten hat, um ein paar Sachen einzukaufen, fährt Charm über den Druid River aufs Land zwischen Linden Falls und dem kleinen Ort Cora, um nach Gus zu sehen. Auch wenn sie es nicht zugeben will, wird Gus jeden Tag schwächer. Als sie in die Auffahrt biegt, unterzieht sie das kleine Farmhaus mit den drei Zimmern, in dem sie wohnt, seit sie zehn war, einer genauen Betrachtung. Gus hat das Haus immer perfekt in Schuss gehalten, und sie muss ganz genau hinsehen, um Anzeichen von Abnutzung zu erkennen, aber sie sind da. Die Farbe auf den schwarzen Fensterläden fängt an, zu verblassen und abzublättern, die weißen Wände bräuchten mal wieder eine Behandlung mit dem Hochdruckreiniger. Der Rasen ist sorgfältig gepflegt, aber nicht so gemäht, wie Gus es tun würde, wenn er gesund wäre. Eine Weile lang hat Charm versucht, den Rasen in dem diagonalen Muster zu mähen, das Gus bevorzugt, aber auch wenn er nie etwas gesagt hat, hat sie gespürt, dass die mangelnde Perfektion der Linien ihn frustriert hat. Schlussendlich hatte Charm einen vierzehnjährigen Nachbarsjungen angerufen, der eine halbe Meile die Straße hinunter lebt, und ihn gebeten, das Rasenmähen zu übernehmen. Doch an seine Blumenbeete lässt Gus niemand anderen heran. Sie sind immer noch seine Domäne, auch wenn sie genauso unter seiner Krankheit leiden wie er.
Charm steigt aus dem Auto, nimmt die Einkaufstüten und geht um das Haus herum zum Seiteneingang. Sie sieht Gus mit dem Rücken zu ihr auf den Knien, den Kopf gesenkt, und einen Moment lang denkt sie, er ist zusammengeklappt. Sie lässt die Tüten fallen und rennt zu ihm. Als er sie hört, dreht er den Kopf und steht langsam auf, wobei er mit zitternder Hand seinen kleinen, transportablen Sauerstofftank aufhebt. „Charm, wo warst du?“, krächzt er. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Sein kariertes Hemd schlackert um seinen dünnen Körper, und seine Kakihosen hängen ihm lose auf den Hüften. Unter Schmerzen zieht er die Gartenhandschuhe aus und lässt sie auf den Boden fallen. Er hat sein dichtes schwarzes Haar glatt aus dem Gesicht gekämmt. Unter der grauen Hautfarbe und den eingesunkenen Augen erkennt Charm einen Hauch des attraktiven Mannes, der er einst war. Der Mann, den ihre Mutter länger behalten hat als alle anderen Freunde und den sie schließlich sogar geheiratet hat. Als Charm klein war, hat sie die beiden immer voller Stolz beobachtet, ihre schöne blonde Mutter und den gut aussehenden, lustigen Gus, den Feuerwehrmann.
Reanne Tullia war vier Jahre mit Gus zusammen – ein Rekord für sie, denkt Charm. Irgendwann wurde es ihrer Mutter aber zu langweilig, glückliche Familie zu spielen. Sie verließ Gus und ließ sich von ihm scheiden. Charm war zehn, als sie einzogen, und vierzehn, als ihre Mutter fand, es wäre an der Zeit, weiterzuziehen. Sie zog allerdings nicht weit weg, nur kurz über den Druid River, um wieder in Linden Falls zu wohnen. Charm ging ein paar Wochen mit ihr, doch es war für sie unerträglich. Mitten in der Nacht rief Charm ihren Stiefvater an und flehte ihn an, wieder zu ihm zurückkehren zu dürfen. Er stellte keine Fragen, sondern sagte einfach Ja. Charm und ihr Bruder baten, bei ihm bleiben zu dürfen, und er war so freundlich, es ihnen zu erlauben.
Jetzt ist Gus sehr krank. Er hat Lungenkrebs, eine Nebenwirkung seines Jobs als Feuerwehrmann und des jahrelangen Rauchens. Gus hat sich vor ungefähr fünf Jahren pensionieren lassen, direkt nachdem er
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