Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
nickt. „Die Feuerwehrmänner haben die Polizei gerufen, die Polizei hat Dana angerufen. Dana hat dich ins Krankenhaus gebracht und dann uns angerufen.“
„Und als du mich zum ersten Mal in den Armen gehalten hast, hast du geweint und geweint.“ Joshua kichert.
„Das stimmt“, pflichtet Claire ihm bei. „Ich habe geweint wie ein Baby. Du warst der hübscheste kleine Junge, und …“ In diesem Moment hören sie beide, dass die Tür zum Buchladen geöffnet wird. Jonathan tritt ein. Seine Arbeitsjeans und sein T-Shirtsind ganz staubig von seinem aktuellen Renovierungsprojekt.
„Hey, Jungs“, ruft er und schüttelt sich den Regen aus den schwarzen Locken. „Was macht ihr?“
„Habdich-Tag“, erklärt Claire.
„Ah.“ Ein breites Grinsen erhellt Jonathans Gesicht. „Der beste Tag von allen.“
„Mom hat geweint“, sagt Joshua und versteckt seinen Mund hinter der Hand, als wenn Claire ihn nicht hören könnte, wenn sie seine Lippen nicht sieht.
„Ich weiß“, flüstert Jonathan zurück. „Ich war dabei.“
„Hey, Dad hat auch geweint“, protestiert Claire und schaut ihre Männer liebevoll an. „Wir haben dich mit nach Hause genommen, und nach dreißig Tagen hat der Richter gesagt: ‚Jetzt ist Joshua offiziell ein Kelby.‘“
„Wer war ich vorher?“, will Joshua ein wenig besorgt wissen.
„Du warst ein Dachs mit drei Schwänzen“, neckt Jonathan ihn.
„Du warst ein Wunsch, den wir jeden Morgen nach dem Aufstehen geäußert haben, und ein Gebet, das wir jeden Abend vor dem Schlafengehen aufgesagt haben“, erzählt Claire ihm und schluckt die Tränen hinunter, die ihr immer kommen, wenn sie daran denkt, wie anders die Dinge hätten laufen können, wenn Dana, die Sozialarbeiterin, eine andere als ihre Telefonnummer gewählt hätte.
„Du warst ein Kelby, sobald wir dich das erste Mal gesehen haben.“ Jonathan setzt sich so auf die Couch, dass Joshua zwischen seinen Eltern eingequetscht wird.
„Ein Kelby-Sandwich“, sagt Joshua und nimmt sein Lieblingsspiel auf. „Ich bin die Erdnussbutter, ihr seid das Brot.“
„Du bist die Leberwurst“, korrigiert Jonathan ihn. „Das Olivenbrot, das gebratene Ei und der Limburger Käse.“
„Nein.“ Joshua lacht. „Du bist ein Truthahnsandwich mit Soße.“
„Hey, ich mag Truthahn-Soßen-Sandwiches“, protestiert Jonathan.
„Quatsch.“ Joshua streckt die Zunge raus.
„Quatsch“, stimmt Claire ihm zu. Jonathan schaut über Joshuas Kopf hinweg zu ihr, und ihre Blicken verfangen sich ineinander. Sie wissen beide, was alles nötig gewesen ist, um diesen Punkt zu erreichen. Die Unfruchtbarkeit, der herzzerreißende Verlust ihres ersten Pflegekindes. Der Herzschmerz und die Enttäuschungen, die sie erlitten haben. Die Vergangenheit ruht fest in der Vergangenheit, wo sie hingehört , sagen ihre Blicke. Wir haben unseren kleinen Jungen, und das ist alles, was zählt.
CHARM
Charm Tullia drückt die Tür von Bookends auf. Die Liste mit den Büchern, die sie benötigt, hält sie in der einen Hand, in der anderen hat sie das Handy, für den Fall, dass Gus anruft. Sie will, dass ihr Stiefvater sie jederzeit erreichen kann, weiß sie doch, dass die Zeit kommen und sie einen Anruf erhalten wird, der sie darüber informiert, dass Gus gefallen ist, Fieber bekommen hat oder Schlimmeres. Der Regen hat aufgehört, aber sie putzt sich trotzdem sorgfältig die Füße an der Matte ab, die gleich im Eingangsbereich des Buchladens liegt.
Claire begrüßt sie herzlich, so wie immer, seitdem Charm den Laden vor vielen Jahren zum ersten Mal betreten hat. Claire fragt sie jedes Mal, was ihre Ausbildung zur Krankenschwester macht und wie es ihrem Stiefvater geht.
„Es geht ihm nicht gut“, berichtet Charm. „Die Pflegeschwester sagt, dass wir darüber nachdenken sollten, bald in ein Hospiz umzuziehen.“
„Das tut mir leid.“ Die Traurigkeit in Claires Stimme ist echt. Charm senkt den Kopf und fängt an, in ihrer Tasche herumzuwühlen, um ihre Augen zu verbergen, die sich bei dem Gedanken an Gus’ Tod mit Tränen füllen. Das macht es ihr so schwer und gleichzeitig so leicht, immer wieder zu Bookends zu kommen. Claire Kelby ist einfach unglaublich nett.
„Ist Joshua heute hier?“, fragt Charm und schaut sich nach dem kleinen Jungen um.
„Du hast ihn gerade verpasst“, sagt Claire entschuldigend. „Jonathan hat ihn mit nach Hause genommen.“
„Dann grüß ihn schön von mir.“ Charm versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen, und reicht
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