Vermächtnis
stellt sich heraus, dass die Menschen das Risiko von Kernreaktor-Unfällen (die von amerikanischen Collegestudenten und Wählerinnen als Gefahr Nummer eins bezeichnet werden) stark überschätzen; ebenso überschätzen sie die Gefahren von Gentechnik, anderen neuen chemischen Verfahren und Spraydosen. Dafür unterschätzen Amerikaner die Gefahren von Alkohol, Autounfällen und Rauchen sowie (in geringerem Umfang) auch die von chirurgischen Eingriffen, Haushaltsgeräten und Lebensmittel-Konservierungsstoffen. Hinter dieser Voreingenommenheit steht die Tatsache, dass wir uns insbesondere vor Ereignissen fürchten, die außerhalb unserer Kontrolle liegen oder potentiell zum Tod zahlreicher Menschen führen können, aber auch vor Situationen mit neuen, unbekannten oder schwer einzuschätzenden Risiken (daher die Angst vor Terroristen, Flugzeugabstürzen und Kernkraftunfällen). Umgekehrt nehmen wir unangemessen leicht altbekannte Risiken hin, die scheinbar unserem Einfluss unterliegen, die wir freiwillig eingehen und die nicht zum Tod von Menschengruppen, sondern von einzelnen Menschen führen. Deshalb unterschätzen wir die Risiken des Autofahrens, des Alkohols, des Rauchens und des Stehens auf Trittleitern: Für solche Dinge entscheiden wir uns, und wir haben das Gefühl, sie unter Kontrolle zu haben; zwar wissen wir, dass andere Menschen auf diese Weise sterben, aber wir glauben, es werde uns nicht treffen, weil wir uns selbst für vorsichtig und stark halten. Chauncey Starr drückte es so aus: »Wir können es nicht ausstehen, wenn andere uns das antun, was wir uns selbst mit dem größten Vergnügen zufügen.«
Viertens nehmen manche Menschen eher Gefahren in Kauf oder haben sogar Spaß daran als andere. Das gilt für Freizeit-Fallschirmspringer, Bungee-Springer, Spielsüchtige und Rennfahrer. Die von Versicherungsgesellschaften zusammengestellten Datenbanken bestätigen unseren intuitiven Eindruck, dass Männer stärker auf Gefahren aus sind als Frauen und dass die männliche Risikobereitschaft ihren Höhepunkt im Alter zwischen 20 und 30 Jahren erreicht, um dann nachzulassen. Ich kam kürzlich von einer Reise zu den Victoriafällen in Afrika zurück, wo der riesige, eineinhalb Kilometer breite Fluss Sambesi mehr als 100 Meter tief in eine schmale Spalte stürzt, die sich über eine noch schmalere Schlucht in ein Becken entleert (das zu Recht als »Kochtopf« bezeichnet wird). Durch diese schmale Passage stürzt das gesamte Wasservolumen des Flusses. Das Dröhnen der Wasserfälle, die schwarzen Felswände, die Gischt in der gesamten Spalte und Schlucht und das tobende Wasser unterhalb der Fälle zeigen, wie der Eingang zur Hölle aussehen muss, wenn es eine Hölle gibt. Unmittelbar über dem Kochtopf führt eine Brücke über die Schlucht; dort können Fußgänger zwischen den Staaten Sambia und Zimbabwe, deren Grenze der Fluss bildet, hin und her wechseln. Von der Brücke unternehmen entsprechend geneigte Touristen Bungee-Sprünge in die schwarze, tosende, mit Gischt gefüllte Schlucht. Als ich das sah, konnte ich mich nicht einmal überwinden, in Richtung der Brücke zu gehen, und ich überlegte, dass ich den Sprung selbst dann nicht geschafft hätte, wenn man mir gesagt hätte, dass ich nur auf diese Weise das Leben meiner Frau und meiner Kinder retten kann. Später jedoch bekamen wir Besuch von Lee, einem 22 -jährigen Klassenkameraden meines Sohnes, der den Sprung in die Schlucht gewagt hatte: Er hatte sich mit einem an den Fußgelenken befestigten Seil kopfüber von der Brücke gestürzt. Ich war erstaunt, dass Lee freiwillig Geld dafür bezahlt hatte, etwas so Entsetzliches zu tun, dass ich die Ersparnisse meines ganzen Lebens dafür gegeben hätte, es zu vermeiden – bis mir einfiel, dass ich mit 22 Jahren, als Student und Höhlenforscher, ebenso risikofreudig gewesen war und einige gleichermaßen schreckliche Erfahrungen gemacht hatte.
Und schließlich stehen manche Gesellschaften der Risikobereitschaft toleranter gegenüber als andere, konservativere. Solche Unterschiede sind uns aus den Gesellschaften der Ersten Welt bekannt, und man hat sie auch bei vielen Stämmen der amerikanischen Ureinwohner und der Bewohner Neuguineas beobachtet. Um nur ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu erwähnen: Während der jüngsten Militäroperationen im Irak wurden amerikanische Soldaten als risikofreudiger bezeichnet als Soldaten aus Frankreich und Deutschland. Wagemutige Spekulationen, mit denen man diesen
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