Vermächtnis
und aus der Allgegenwart der Religion ergebe sich ebenso wenig eine Frage nach ihren angeblichen Funktionen und Nutzeffekten wie aus der Allgegenwart von Gestein. Wer in dieser Weise gläubig ist, den möchte ich einladen, sich nur für einen Augenblick einmal ein hochentwickeltes Lebewesen aus dem Andromedanebel vorzustellen, das mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit durch das Universum rast (was uns Menschen als unmöglich gilt), die Billionen Sterne und Planeten des Universums besucht und die Vielfalt des Lebens im Weltall untersucht: Wie er feststellt, wird der Stoffwechsel stets entweder durch Licht oder andere Formen der elektromagnetischen Strahlung, Wärme, Wind, Kernreaktionen und anorganische oder organische chemische Reaktionen angetrieben. In regelmäßigen Abständen kommt unser Besucher vom Andromedanebel auch auf den Planeten Erde, wo sich das Leben in der Evolution so entwickelt hat, dass es nur die Energie aus dem Sonnenlicht sowie aus anorganischen und organischen chemischen Reaktionen nutzen kann. Für eine kurze Phase zwischen ungefähr 11 000 v.Chr. und dem 11 . September 2051 n.Chr. wurde die Erde von einer Lebensform beherrscht, die sich selbst als Menschen bezeichnete und an einigen seltsamen Ideen festhielt. Eine davon war der Gedanke, es müsse ein allmächtiges Wesen namens Gott geben, das ein besonderes Interesse an der menschlichen Spezies hat, nicht aber an den Millionen oder Billionen anderen Arten im Universum; dieses Wesen, so glauben die Menschen, habe das Universum erschaffen, und oft stellen sie es als menschenähnlich dar, nur ist es eben allmächtig. Natürlich erkennt der Andromeda-Bewohner, dass solche Überzeugungen eine Täuschung sind, die man nicht übernehmen, sondern untersuchen sollte: Der Andromeda-Bewohner und viele andere Lebewesen haben natürlich bereits herausgefunden, wie das Universum in Wirklichkeit erschaffen wurde, und die Vorstellung, ein allmächtiges Wesen sei besonders an der Spezies Mensch interessiert oder würde ihr ähneln, obwohl diese doch weit weniger interessant und weniger hoch entwickelt ist als Milliarden andere Lebensformen im Universum, wäre absurd. Ebenso beobachtet der Andromeda-Besucher, dass es unter den Menschen Tausende von verschiedenen Religionen gibt, wobei die meisten ihrer Anhänger die eigene Religion für richtig und alle anderen für falsch halten; auch das legt für den Außerirdischen die Vermutung nahe, dass sie alle falsch sind.
Dennoch ist der Glaube an einen solchen Gott in den Gesellschaften der Menschen weit verbreitet. Der Andromeda-Besucher kennt die Gesetzmäßigkeiten der universellen Soziologie, und die müssen eine Erklärung dafür liefern, warum die Gesellschaften der Menschen so hartnäckig daran festhalten, obwohl Religionen den Einzelnen wie auch die Gesellschaft zu einem gewaltigen Zeit- und Ressourcenaufwand zwingen, und obwohl sie die Menschen zu schmerzhaften oder selbstmörderischen Verhaltensweisen motivieren. Offensichtlich, so die Überlegung des Andromeda-Besuchers, muss Religion zum Ausgleich einen Nutzeffekt haben, ansonsten hätten atheistische Gesellschaften, die weder durch einen solchen Aufwand an Zeit und Ressourcen noch durch selbstmörderische Impulse belastet sind, die religiösen Gesellschaften verdrängt. Wer es also verletzend findet, die Funktionen der eigenen Religion genauer zu untersuchen, ist vielleicht bereit, die Frage vorübergehend aus der Distanz zu betrachten und nach den Funktionen der Religion bei den Stämmen zu fragen oder sich in den Andromeda-Besucher hineinzuversetzen und allgemeine Fragen nach den Religionen der Menschen zu stellen.
Definitionen für Religion
Zunächst einmal wollen wir Religion definieren, damit wir uns zumindest darüber einig sind, von welchem Phänomen wir eigentlich sprechen. Welche Merkmale sind allen Religionen gemeinsam, dem Christentum ebenso wie der Stammesreligion und dem Polytheismus im antiken Griechenland und Rom, und welche Eigenschaften sind notwendig und hinreichend, damit wir eine Religion gegen ähnliche, aber andere Phänomene (beispielsweise Magie, Patriotismus oder Lebensphilosophie) abgrenzen können?
Im Folgenden sind 16 verschiedene Definitionen aufgeführt, die von Religionswissenschaftlern vorgeschlagen wurden. Am häufigsten werden von anderen Experten die Definitionen Nummer 11 von Émile Durckheim und Nummer 13 von Clifford Geertz zitiert. Wie man leicht erkennt, ist man sich über eine Definition nicht einmal
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