Vermächtnis
dagegen sammeln sie in Hungerzeiten, weichen sie ein, kochen sie und spülen sie einen Tag lang aus, um die Giftstoffe zu entfernen; dann essen sie die Schoten.
Mein letztes Beispiel für die Erweiterung des Speisezettels stammt vom Volk der Kaulong auf der Insel Neubritannien. Für sie ist Taro, das in Gärten angebaut wird, ein Grundnahrungsmittel, und Schweinefleisch ist wichtig für Zeremonien. Was die Kaulong auf Tok Pisin als »taimbilonghanggiri« (»time belong hunger« – Zeit gehört Hunger) bezeichnen, ist die lokale Trockenzeit von Oktober bis Januar, in der die Gärten nur wenig Lebensmittel liefern. In dieser Zeit gehen die Kaulong in den Wald, wo sie jagen, Insekten, Schnecken und andere Kleintiere sammeln und Wildpflanzen ernten, von denen sie verständlicherweise alles andere als begeistert sind. Eine dieser Pflanzen ist eine giftige wilde Nuss, die man vor der Zubereitung mehrere Tage einweichen muss, damit das Gift ausgeschwemmt wird. Eine andere solche Pflanze zweiter Wahl ist eine wilde Palme, deren Stamm gebraten und gegessen wird; zu anderen Zeiten des Jahres wird sie verschmäht und als Schweinefutter verwendet.
Verdichtung und Verteilung
Neben der Lagerung von Lebensmitteln und der Erweiterung des Speisezettels bleibt als letzte traditionelle Lösung für das Problem, das von einer vorhersehbaren Jahreszeit der Nahrungsknappheit ausgeht, eine jährlich wiederkehrende Wanderung der Bevölkerung mit Verdichtung und Verteilung. Wenn nur wenige Nahrungsressourcen zur Verfügung stehen und sich in wenigen Regionen konzentrieren, sammeln sich die Menschen in diesen Gebieten. Zu günstigeren Jahreszeiten, wenn die Ressourcen gleichmäßig und weit gestreut sind, verteilen sich die Menschen wieder über die Landschaft.
Ein bekanntes Beispiel aus Europa sind die Bauern in den Alpen, die den Winter auf ihren Höfen in den Tälern verbringen. Im Frühjahr und Sommer bringen sie ihre Kuh- und Schafherden im Gefolge des frischen Grases und des schmelzenden Schnees über die Abhänge der Gebirge auf die Almweiden. Einen ähnlichen jahreszeitlichen Zyklus der Verdichtung und Verteilung gibt es bei vielen anderen Bauerngesellschaften auf der ganzen Welt, aber auch bei zahlreichen Gesellschaften von Jägern und Sammlern, so bei den australischen Aborigines, den Inuit, den Indianern an der nordamerikanischen Pazifikküste, den Shoshone im Großen Becken, den !Kung und den afrikanischen Pygmäen. Die magere Jahreszeit, in der sich die Bevölkerung verdichtet, bietet die Gelegenheit zu jährlich wiederkehrenden Zeremonien, Tänzen, Initiationsriten, Eheverhandlungen und anderen Ereignissen des sozialen Lebens. Wie ein solcher Zyklus ablaufen kann, möchte ich an zwei Beispielen erläutern: den Shoshone und den !Kung.
Die Shoshone-Indianer im Großen Becken der westlichen Vereinigten Staaten leben in einer Wüstenumwelt mit extremen jahreszeitlichen Unterschieden: Im Sommer ist es trocken und heiß (Tagestemperaturen zwischen 35 und 39 Grad), der Winter ist kalt (häufig herrscht den ganzen Tag über Frost), und der wenige Niederschlag (weniger als 250 Millimeter im Jahr) fällt zum größten Teil im Winter als Schnee. Im Winter, der Zeit der Lebensmittelknappheit, werden als wichtigste Lebensmittel Vorräte von Pinienkernen und Mesquitestärke verzehrt. Im Herbst sammeln sich die Menschen in den Pinienwäldern, um die Kerne der Bäume innerhalb kurzer Zeit in großen Mengen zu ernten, zu verarbeiten und einzulagern. Gruppen von zwei bis zehn miteinander verwandten Familien leben dann den Winter über gemeinsam in einem Lager in der Nähe eines Pinienwaldes und einer Wasserquelle. Im Frühjahr, wenn mit den steigenden Temperaturen auch das Pflanzenwachstum und die Aktivität der Tiere wieder zunehmen, lösen sich die Lager auf, und die Kernfamilien verbreiten sich auch in höheren und tieferen Höhenlagen über die Landschaft. Im Sommer schaffen die weitverbreiteten, vielfältigen Nahrungsressourcen für die Shoshone die Möglichkeit, ihren Speisezettel stark zu erweitern: Sie suchen Samen, Wurzeln, Knollen, Beeren, Nüsse und andere pflanzliche Lebensmittel, aber auch Heuschrecken, Fliegenlarven und weitere Insekten; außerdem machen sie Jagd auf Kaninchen und andere Nagetiere, Kleintiere wie Reptilien, Hirsche, Bergschafe, Antilopen, Elche und Bisons; außerdem fangen sie Fische. Gegen Ende des Sommers sammeln sie sich wieder bei den Pinienwäldern und richten ihre Winterlager ein. In einer anderen
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