Vermächtnis
ihr?
Praktisch alle Gesellschaften der Menschen, die man kennt, hatten eine »Religion« oder etwas Ähnliches. Dies lässt darauf schließen, dass Religion ein allgemein verbreitetes Bedürfnis der Menschen erfüllt oder zumindest aus einem Teil unseres Wesens erwächst, der uns allen gemeinsam ist. Angenommen, das stimmt: Worin besteht dann dieses Bedürfnis oder dieser Teil der menschlichen Natur? Und wie ist »Religion« eigentlich definiert? Über solche und ähnliche Fragen diskutieren die Gelehrten schon seit Jahrhunderten. Stellt ein Glaubenssystem nur dann eine Religion dar, wenn es den Glauben an einen Gott, mehrere Götter oder übernatürliche Kräfte beinhaltet, und muss zwangsläufig noch etwas anderes dazugehören? Wann erschien die Religion in der Entwicklungsgeschichte des Menschen auf der Bildfläche? Die Vorfahren der Menschen trennten sich vor rund 6 Millionen Jahren von den Vorfahren der Schimpansen. Was Religion auch sein mag, wir können uns darauf einigen, dass Schimpansen sie nicht besitzen; aber gab es Religion bereits vor 40 000 Jahren bei unseren Cromagnon-Vorfahren und Neandertaler-Verwandten? Gab es in der Entwicklung der Religionen verschiedene historische Stadien, und stellen Glaubensrichtungen wie Christentum und Buddhismus dann ein späteres Stadium dar als die Glaubenssysteme von traditionellen Stämmen? Wir neigen dazu, Religion nicht mit der bösen, sondern mit der edlen Seite der Menschen in Verbindung zu bringen, aber warum predigen Religionen dann manchmal Mord und Selbstmord?
Solche Fragen nach der Religion sind im Zusammenhang des vorliegenden Buches, das sich mit dem gesamten Spektrum der Gesellschaften von den kleinsten und ältesten bis zu den bevölkerungsreichsten und modernen beschäftigt, besonders interessant. Im Bereich der Religion gedeihen traditionelle Institutionen noch in ansonsten modernen Gesellschaften: Die großen heutigen Weltreligionen entstanden vor 1400 bis über 3000 Jahren in Gesellschaften, die viel kleiner und traditioneller waren als jene, die sich noch heute für diese Religionen einsetzen. Religionen unterscheiden sich aber je nach der Größe der Gesellschaft, und diese Unterschiede verlangen nach einer Erklärung. Außerdem stellen die meisten Leser dieses Buches und auch ich unsere persönlichen religiösen Überzeugungen (oder ihr Fehlen) irgendwann in ihrem Leben einmal in Frage oder haben es in der Vergangenheit getan. Wenn wir das tun, können uns Erkenntnisse darüber, welch unterschiedliche Bedeutung Religion für verschiedene Völker hatte, bei der Suche nach Antworten helfen, die individuell zu uns passen.
Für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaften ist Religion häufig mit einer gewaltigen Investition in Zeit und Ressourcen verbunden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Von Mormonen wird erwartet, dass sie zehn Prozent ihres Einkommens an ihre Kirche abgeben. Die traditionellen Hopi-Indianer widmen sich Schätzungen zufolge an einem von drei Tagen religiösen Zeremonien, und im traditionellen Tibet machten Mönche ein Viertel der Bevölkerung aus. Der Anteil an Ressourcen, der im christlichen Europa des Mittelalters in den Bau und die Ausstattung von Kirchen und Kathedralen, die Finanzierung der vielen Mönchs- und Nonnenorden und die Teilnahme an Kreuzzügen geflossen ist, muss gewaltig gewesen sein. Um einen Ausdruck aus der Wirtschaftswissenschaft zu übernehmen: Religion verursacht »Opportunitätskosten« – damit meint man Investitionen an Zeit und Ressourcen, die in die Religion fließen und die man stattdessen auch offenkundig gewinnbringenden Tätigkeiten widmen könnte, beispielsweise dem Anbau von mehr Nutzpflanzen, dem Bau von Staudämmen oder der Finanzierung größerer Eroberungsarmeen. Würde Religion nicht irgendeinen großen realen Nutzen produzieren, der diese Opportunitätskosten wettmacht, wäre eine atheistische Gesellschaft, die sich zufällig entwickelt, wahrscheinlich den religiösen Gesellschaften in der Konkurrenz überlegen und würde die Weltherrschaft erringen. Warum ist die Welt also nicht atheistisch geworden, und worin besteht dieser Nutzen der Religion? Welche »Funktionen« hat sie?
Dem Gläubigen erscheinen solche Fragen nach den Funktionen der Religion möglicherweise unsinnig oder sogar beleidigend. Ein Gläubiger würde darauf vielleicht antworten, Religion sei einfach deshalb unter den Gesellschaften der Menschen nahezu allgemein verbreitet, weil es tatsächlich einen Gott gibt,
Weitere Kostenlose Bücher