Vermächtnis
zusammen mit 20 Hochlandbewohnern aus Neuguinea in einem Lager im Bergwald – wurde die Unterhaltung am Lagerfeuer parallel in mehreren einheimischen Sprachen geführt, außerdem auch in den beiden allgemein verbreiteten Sprachen Tok Pisin und Motu. So geht es häufig, wenn eine Gruppe von Neuguineern aus unterschiedlichen Stämmen sich zusammenfindet. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt, alle 20 bis 30 Kilometer auf eine neue Sprache zu stoßen, wenn ich zu Fuß oder mit dem Auto im Hochland Neuguineas unterwegs war. Kurz zuvor war ich im Tiefland gewesen, und dort hatte mir ein einheimischer Freund erzählt, dass im Umkreis von wenigen Kilometern um sein Dorf fünf verschiedene Sprachen gesprochen wurden, dass er diese Sprachen als Kind einfach beim Spielen mit anderen Kindern aufgeschnappt hatte und dass er nochmals drei Sprachen gelernt hatte, nachdem er in die Schule gekommen war. Daraufhin ging ich an jenem Abend aus Neugier in dem Kreis am Lagerfeuer herum und bat jeden Einzelnen, sämtliche Sprachen zu benennen, die er »sprach«, das heißt, die er so gut beherrschte, dass er sich in ihr unterhalten konnte.
Die niedrigste Zahl von Sprachen, die jeder einzelne Neuguineer sprach, waren fünf. Mehrere Männer sprachen acht bis zwölf Sprachen, und der Champion brachte es auf 15 . Abgesehen vom Englischen, das man in Neuguinea häufig in der Schule aus Büchern lernt, hatten alle ihre Sprachkenntnisse ohne Bücher auf sozialem Weg erworben. Und um eine mutmaßliche Frage vorwegzunehmen: Ja, bei den hier aufgezählten lokalen Sprachen handelte es sich nicht nur um Dialekte, sondern sie waren wechselseitig unverständlich. Einige waren tonale Sprachen wie das Chinesische, andere waren nichttonal, und sie gehörten zu mehreren Sprachfamilien.
In den Vereinigten Staaten dagegen sind die meisten im Land geborenen Bürger einsprachig. Gebildete Europäer sprechen in der Regel zwei oder drei Sprachen oder manchmal auch mehr, weil sie Fremdsprachen in der Schule gelernt haben. Der linguistische Gegensatz zwischen dem Lagerfeuer in Neuguinea und den Erfahrungen in den Vereinigten Staaten oder Europa macht deutlich, dass zwischen Kleingesellschaften und modernen Staatsgesellschaften im Hinblick auf den Sprachgebrauch große Unterschiede bestehen – und diese Unterschiede werden in den kommenden Jahrzehnten noch wachsen. In unserer traditionellen Vergangenheit wurde wie im heutigen Neuguinea jede Sprache von weniger Menschen gesprochen als in modernen Staaten; vermutlich war ein größerer Anteil der Bevölkerung mehrsprachig; und Zweitsprachen wurden nicht formell in der Schule gelernt, sondern auf sozialem Weg von frühester Kindheit an erworben.
Leider verschwinden Sprachen heute schneller als in jeder früheren Phase der Menschheitsgeschichte. Wenn sich der derzeitige Trend fortsetzt, werden 95 Prozent der Sprachen, die uns über Zehntausende von Jahren durch verhaltensmäßig moderne Menschen weitergegeben wurden, bis zum Jahr 2100 ausgestorben oder zum Aussterben verurteilt sein. Die Hälfte unserer Sprachen wird bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich verschwunden sein, und bei dem Rest wird es sich größtenteils um sterbende Sprachen handeln, die nur noch von alten Menschen gesprochen werden. Nur noch eine kleine Minderheit »lebender« Sprachen wird dann von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Sprachen verschwinden so schnell (ungefähr alle neun Tage eine), und zu ihrer Erforschung gibt es so wenige Linguisten, dass die Zeit in den meisten Fällen nicht einmal mehr reicht, um sie zu beschreiben und aufzuzeichnen. Die Linguisten stehen in einem ganz ähnlichen Wettlauf mit der Zeit wie die Biologen: Diese wissen heute, dass auch für die meisten Tier- und Pflanzenarten die Gefahr des Aussterbens und Verschwindens besteht, bevor man sie beschreiben kann. Wir hören viele ängstliche Diskussionen darüber, wie Vögel, Frösche und andere biologische Arten immer schneller verschwinden, während unsere Coca-Cola-Kultur sich über die ganze Welt verbreitet. Dem Verschwinden unserer Sprachen und ihrer unverzichtbaren Rolle für das Überleben der indigenen Kulturen hat man dagegen viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Jede Sprache ist das Transportmittel für eine einzigartige Denk- und Redeweise, eine einzigartige Literatur und eine einzigartige Weltsicht. Uns droht also eine Tragödie: der Verlust des größten Teils unseres kulturellen Erbes in Verbindung mit dem Verlust des größten Teils aller
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