Vermächtnis
Vergeltung reicht. Wie sich in experimentellen Untersuchungen mit Simulationsspielen gezeigt hat, ist Vergebung gegenüber einem Menschen, der einem unrecht getan hat, unter bestimmten Umständen tatsächlich die Reaktion, die in Zukunft mit größter Wahrscheinlichkeit Vorteile bringt.
Ein anderes Beispiel für die Anwendung von Wilsons theoretischem Rahmen betrifft den Erfolg des Mormonentums, das in den letzten beiden Jahrhunderten eine der am schnellsten wachsenden Religionen war. Nichtmormonen zweifeln in der Regel an der zuvor zitierten Behauptung des Mormonengründers Joseph Smith, der Engel Moroni sei ihm am 21 . September 1823 erschienen und habe ihm goldene Tafeln gezeigt, die auf einem Berg nicht weit von dem Dorf Manchester im Westen des US -Bundesstaates New York vergraben waren und der Übersetzung harrten. Ebenso zweifeln Nichtmormonen an den beeideten Aussagen von elf Zeugen (Oliver Cowdery, Christian Whitmer, Hiram Page und acht weitere), die angeblich die Tafeln gesehen und in der Hand gehabt haben. Deshalb können Nichtmormonen sich fragen: Wie konnten diese ganz offensichtlich unplausiblen Behauptungen das explosionsartige Wachstum des Mormonentums in Gang setzen?
Wilsons Ansatz geht von der Erkenntnis aus, dass der Erfolg einer Religion, gemessen an der Steigerung ihrer Anhängerzahl, nicht davon abhängt, ob ihre Lehrsätze wahr sind; wichtig ist vielmehr, ob diese Lehrsätze und die mit ihnen verbundenen Praktiken die Anhänger der Religion dazu motivieren, Kinder zu zeugen und erfolgreich großzuziehen, Bekehrungen vorzunehmen und/oder eine reibungslos funktionierende Gesellschaft zu bilden. Wilson formuliert es so: »Selbst krass fiktive Überzeugungen können der Anpassung dienen, solange sie zum Motiv für Verhaltensweisen werden, die in der Realität der Anpassung dienen … Tatsachenwissen allein reicht häufig nicht aus, um anpassungsorientiertes Verhalten in Gang zu setzen. Manchmal erbringt ein symbolisches Glaubenssystem, das von der Tatsachenrealität abweicht, bessere Leistungen.«
Gerade Lehren und Praktiken des Mormonentums haben sich, was die Förderung des demographischen Wachstums angeht, als besonders erfolgreich erwiesen. Mormonen haben in der Regel viele Kinder. Sie bieten eine stark von gegenseitiger Unterstützung und Abhängigkeit geprägte Gesellschaft, die ein umfassendes, erfüllendes Sozialleben und Anreize zum Arbeiten bietet. Auf die Missionstätigkeit wird großer Wert gelegt: Von jungen Mormonen erwartet man, dass sie bis zu zwei Jahre ihres Lebens entweder in Übersee oder in der Nähe ihrer Heimat der Gewinnung von Bekehrten widmen. Von Mormonen wird erwartet, dass sie (in den Vereinigten Staaten zusätzlich zu den üblichen Steuern für Bund, Bundesstaat und Gemeinde) eine Abgabe von zehn Prozent ihres Einkommens an ihre Kirche zahlen. Diese hohen Anforderungen an den Einsatz von Zeit und Ressourcen bieten die Gewähr, dass diejenigen, die sich entschließen, Mormonen zu werden oder zu bleiben, ihren Glauben ernst nehmen. Und was die angeblich mangelnde Plausibilität der Behauptungen von Joseph Smith und seinen elf Zeugen über göttliche Offenbarungen mit Hilfe goldener Tafeln angeht – was ist eigentlich der Unterschied zwischen diesen Behauptungen und den biblischen Berichten über die göttlichen Offenbarungen an Jesus oder Mose, wenn man einmal davon absieht, dass sie schon Jahrtausende zurückliegen und dass wir je nach unserer Herkunft eine unterschiedliche Skepsis mitbringen?
Was sagt Wilson über die bei den Religionen verbreitete grundlegende Heuchelei, edle moralische Prinzipien zu predigen und gleichzeitig zum Mord an Anhängern anderer Religionen aufzufordern? Darauf erwidert Wilson: Der Erfolg einer Religion (oder ihre »Fitness«, um die Sprache der Evolutionsbiologie zu verwenden) ist relativ und lässt sich nur im Vergleich zu den Erfolgen anderer Religionen definieren. Ob es einem gefällt oder nicht: Religionen können ihren »Erfolg« (definiert als Zahl ihrer Anhänger) dadurch steigern, dass sie Anhänger anderer Religionen töten oder zwangsbekehren, und haben dies auch häufig getan. Wilson schreibt: »Immer wenn ich ein Gespräch über Religion anfange, höre ich eine Litanei von bösen Taten, die in Gottes Namen begangen wurden. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Gräueltaten religiöser Gruppen an anderen Gruppen. Wie kann ich der Religion angesichts solcher Belege einen Anpassungswert zuschreiben? Die Antwort
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