Vermächtnis
Sprachen und der Menschen, die sie sprechen, zwingen uns zur Auseinandersetzung mit dem Thema, das ich am Anfang dieses Kapitels in meinem Bericht über die Umfrage am Lagerfeuer in Neuguinea bereits vorweggenommen habe. Was ist der Unterschied zwischen einer eigenständigen Sprache und einem Dialekt einer Sprache? Bei den Sprachunterschieden zwischen benachbarten Bevölkerungsgruppen gibt es alle Abstufungen: Nachbarn verstehen zu 100 %, 92 %, 75 %, 42 % oder überhaupt nicht, was der andere sagt. Die Grenzlinie zwischen Sprache und Dialekt wird oft willkürlich bei 70 % gegenseitiger Verständlichkeit gezogen: Wenn Nachbarpopulationen, die unterschiedlich sprechen, das Gesagte des anderen zu mehr als 70 Prozent verstehen, sprechen sie (nach dieser Definition) verschiedene Dialekte derselben Sprache, liegt der Anteil dessen, was sie verstehen, dagegen bei unter 70 Prozent, definiert man ihre Äußerungen als verschiedene Sprachen.
Aber selbst diese einfache, willkürliche, rein sprachwissenschaftliche Definition kann zu Zweideutigkeiten führen, wenn man sie in der Praxis anwenden will. Eine praktische Schwierigkeit sind Dialektketten: In einer Kette von Nachbardörfern ( ABCDEFGH ) verstehen die Bewohner jedes Dorfes ihre Nachbarn auf beiden Seiten, aber die Menschen aus den Dörfern A und H von den Enden der Kette verstehen sich unter Umständen überhaupt nicht. Eine andere Schwierigkeit besteht darin, dass Paare von Sprachgemeinschaften im Hinblick auf die Verständlichkeit asymmetrisch sein können: A versteht vielleicht das meiste, was B sagt, aber B hat Schwierigkeiten, A zu verstehen. Meine Portugiesisch sprechenden Freunde erklären mir zum Beispiel, sie könnten Spanisch gut verstehen, aber meine Spanisch sprechenden Freunde verstehen sehr viel weniger Portugiesisch.
Probleme dieser beiden Kategorien stellen sich, wenn man auf rein linguistischer Grundlage eine Unterscheidung zwischen Dialekten und Sprachen treffen will. Eine größere Schwierigkeit besteht darin, dass Sprachen nicht nur nach linguistischen Kriterien als verschieden definiert werden, sondern auch aufgrund politischer und selbstdefinierter ethnischer Unterschiede. Diese Tatsache spiegelt sich in einem Witz wider, den man in Linguistenkreisen häufig hört: »Eine Sprache ist ein Dialekt, der von einer eigenen Armee und Marine unterstützt wird.« Spanisch und Italienisch dürften beispielsweise den 70 %-Test zur Einstufung als verschiedene Sprachen nicht bestehen: Wie meine spanischen und italienischen Freunde mir bestätigen, verstehen sie insbesondere mit ein wenig Übung das meiste von dem, was der jeweils andere sagt. Aber ganz gleich, was ein Sprachforscher nach Anwendung der 70 %-Regel sagen würde: Jeder Spanier und Italiener, aber auch alle anderen werden Spanisch und Italienisch ohne Zögern zu verschiedenen Sprachen erklären – immerhin haben sie seit über 1000 Jahren nicht nur jeweils ihre eigene Armee und Marine, sondern auch getrennte Regierungen und Schulsysteme.
Umgekehrt haben viele europäische Sprachen stark differenzierte regionale Ausprägungen, die von den Regierungen der jeweiligen Staaten nachdrücklich als Dialekte bezeichnet werden, obwohl Sprecher aus den verschiedenen Regionen sich unter Umständen überhaupt nicht verstehen. Wenn Menschen aus dem ländlichen Oberbayern sprechen, wissen meine norddeutschen Freunde nicht, wo vorne und hinten ist, und ähnlich ergeht es meinen Freunden aus Norditalien in Sizilien. Ihre Staatsregierungen beharren aber steif und fest darauf, dass diese Regionen keine eigenen Armeen und Seestreitkräfte haben sollten; deshalb werden ihre Sprechweisen als Dialekte bezeichnet, und man wage nur nicht, das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit zu erwähnen!
Noch größer waren solche regionalen Unterschiede in den Staaten Europas vor 60 Jahren, bevor Fernsehen und interne Wanderungsbewegungen für eine Einebnung der »Dialekt«unterschiede sorgten. Als ich beispielsweise 1950 zum ersten Mal in Großbritannien war, brachten meine Eltern meine Schwester und mich zu Freunden der Familie, die Grantham-Hills hießen und in der Ortschaft Beccles in East Anglia wohnten. Während meine Eltern und ihre Freunde sich unterhielten, wurden mir und meiner Schwester die Gespräche der Erwachsenen langweilig, und wir gingen nach draußen, um einen Spaziergang durch das liebenswürdige alte Stadtzentrum zu machen. Nachdem wir mehrmals abgebogen waren, ohne die Ecken zu zählen,
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