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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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sehr zahlreiche christliche Sekte, die an die Doppelexistenz böser und guter, in einen ewigen Kampf verstrickter übernatürlicher Kräfte glaubte)?
    Im weiteren Verlauf stellt Wilson fest, dass die Zahl der Anhänger einer Religion vom Gleichgewicht zwischen mehreren Prozessen abhängt, von denen einige die Zahl der Anhänger tendenziell steigern, während andere sie sinken lassen. Die Zahl der Anhänger steigt, wenn Gläubige Kinder zur Welt bringen und sie erfolgreich in ihrem Glauben aufziehen, aber auch durch die Bekehrung von Anhängern anderer Religionen oder zuvor nichtreligiöser Menschen. Dagegen schrumpft die Zahl durch den Tod von Anhängern sowie durch den Verlust von Anhängern, die sich anderen Religionen zuwenden. Nun könnte man innehalten und sagen: »Natürlich, das liegt doch auf der Hand, na und? Was trägt das zur Beantwortung der Frage bei, warum die Zahl der Katholiken, die an die Auferstehung Christi glauben, größer ist als die Zahl der Juden, die daran nicht glauben?« Wilsons Ansatz ist so leistungsfähig, weil er einen Rahmen bietet, in dem man die verschiedenen Einflüsse der Überzeugungen oder Praktiken einer Religion auf die Prozesse untersuchen kann, durch die die Zahl der Anhänger steigt oder sinkt. Manche Befunde sind einfach, andere komplizierter. Wie sich herausstellt, wenden die Religionen in ihrem Streben nach Erfolg höchst unterschiedliche Strategien an.
    In den Vereinigten Staaten war beispielsweise die religiöse Bewegung der Shaker im 19 . Jahrhundert eine Zeitlang sehr erfolgreich, obwohl sie von ihren Anhängern ein zölibatäres Leben forderte, so dass ihr die am weitesten verbreitete Methode, mit der Religionen sich ausbreiten (die Produktion von Kindern), völlig fehlte. Ihre Erfolge erzielten die Shaker ausschließlich dadurch, dass sie über viele Jahrzehnte hinweg Menschen bekehrten. Am anderen Ende des Spektrums steht das Judentum, das über mehrere Jahrtausende erhalten geblieben ist, obwohl es keine Bekehrungen anstrebt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Christentum und der Islam, die sehr wohl missionieren, mehr Anhänger haben als das Judentum, aber das Judentum ist dennoch erhalten geblieben, weil andere Faktoren zu seinem demographischen Wachstum beigetragen haben: eine relativ hohe Geburtenrate, eine niedrige Sterblichkeit außer in Zeiten der Verfolgung, die Betonung der Bildung zur Schaffung wirtschaftlicher Möglichkeiten, große gegenseitige Hilfsbereitschaft und ein geringer Verlust durch den Übertritt von Juden zu anderen Religionen. Was die Albigenser betrifft, so war ihr Verschwinden nur indirekt eine Folge ihrer Überzeugung, dass die Kräfte des Guten und des Bösen in einen ewigen Kampf verstrickt sind. Diese Überzeugung hielt die Albigenser nicht davon ab, Kinder zu bekommen, und sie war auch nicht so unplausibel, dass man auf ihrer Grundlage keine Bekehrungen vornehmen konnte. Es lag vielmehr daran, dass ihr Glaube den Katholiken der Hauptrichtung ein Gräuel war: Die katholische Kirche erklärte den Albigensern den Krieg, belagerte sie, nahm schließlich ihre Festung ein und verbrannte alle noch verbliebenen Albigenser auf dem Scheiterhaufen.
    Auf eine der größten Fragen in der abendländischen Religionsgeschichte erwachsen aus Wilsons Arbeiten vielschichtigere Antworten. Warum wurde eine der unzähligen, winzigen jüdischen Sekten, die im Römischen Reich während des ersten Jahrhunderts n.Chr. untereinander und mit nichtjüdischen Gruppen konkurrierten, zum Christentum und damit drei Jahrhunderte später zur beherrschenden Religion? In spätrömischer Zeit trugen zu dieser Entwicklung einige charakteristische Merkmale des Christentums bei: seine aktive Missionstätigkeit (im Gegensatz zur Hauptrichtung des Judentums), seine Praktiken, die (im Gegensatz zur römischen Gesellschaft jener Zeit) zu mehr Nachwuchs führten und den Kindern das Überleben erleichterten, seine Möglichkeiten für Frauen (im Gegensatz zum Judentum, zum römischen Heidentum jener Zeit und zum späteren Christentum), seine sozialen Einrichtungen, die dazu führten, dass weniger Christen als Römer an Krankheitsepidemien starben, und die christliche Lehre der Vergebung. Diese Lehre wird oft als übermäßig vereinfachte Vorstellung, man solle unterschiedslos die andere Wange hinhalten, missverstanden; in Wirklichkeit ist sie Teil eines vielschichtigen, vom Zusammenhang abhängigen Systems von Reaktionen, wobei das Spektrum von der Vergebung bis zur

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