Vermächtnis
Kindern oder Enkeln ständig in zwei Sprachen zu plappern. Deshalb ist es vielleicht interessanter, etwas über Berichte zu erfahren, wonach Zweisprachigkeit auch am anderen Ende der Lebenszeit von Vorteil ist: im hohen Alter, das für so viele von uns die verheerende Tragödie der Alzheimer-Krankheit und anderer Formen der Altersdemenz bereithält.
Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Altersdemenz; betroffen sind ungefähr fünf Prozent aller Menschen über 75 Jahre und 17 Prozent der über 85 -Jährigen. Am Anfang stehen Vergesslichkeit und ein Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses, und im Laufe von fünf bis zehn Jahren führt die unheilbare Krankheit unaufhaltsam zum Tod. Sie geht mit Schäden im Gehirngewebe einher, die sich durch eine Obduktion oder (zu Lebzeiten) mit bildgebenden Verfahren nachweisen lassen, darunter eine Schrumpfung des Gehirns und die Anreicherung bestimmter Proteine. Bisher sind alle Versuche, die Krankheit mit Medikamenten und Impfungen zu behandeln, gescheitert. Bei Menschen, die ein geistig und körperlich anregendes Leben geführt haben – mehr Bildung, anspruchsvolle Berufstätigkeit, anregende zwischenmenschliche Beziehungen und Freizeitgestaltung, mehr körperliche Bewegung – kommt die Demenz seltener vor. Die lange Latenzzeit – bis zu 20 Jahre – zwischen der Anreicherung der Proteine und dem Auftreten der Alzheimer-Symptome wirft aber, was die Interpretation der Befunde über ein anregendes Leben angeht, Fragen nach Ursache und Wirkung auf: Vermindert Anregung als solche tatsächlich die Alzheimer-Symptome, oder waren die Betreffenden gerade deshalb in der Lage, ein anregendes Leben zu führen, weil sie nicht an den Frühstadien der Proteinanreicherung litten – oder weil sie auch aufgrund genetischer Vorteile vor der Alzheimer-Krankheit geschützt waren? In der Hoffnung, das anregende Leben könne nicht die Folge, sondern die Ursache eines langsameren Krankheitsverlaufs sein, werden ältere Menschen aus Angst vor der Alzheimer-Krankheit manchmal dazu gedrängt, Bridge oder anspruchsvolle Online-Spiele zu spielen oder Sudokus zu lösen.
Faszinierende Befunde aus den letzten Jahren legen die Vermutung nahe, dass lebenslange Zweisprachigkeit einen gewissen Schutz gegen die Symptome der Alzheimer-Krankheit bietet. Unter 400 Patienten mit einer mutmaßlichen Alzheimer-Diagnose (oder in einigen Fällen mit einer anderen Demenz) – die meisten davon im Alter zwischen 70 und 80 Jahren –, die in einer Klinik im kanadischen Toronto untersucht wurden, zeigten sich die ersten Symptome bei zweisprachigen Patienten in einem um vier oder fünf Jahre höheren Alter als bei einsprachigen. Die Lebenserwartung liegt in Kanada bei 79 Jahren, und damit entspricht eine Verzögerung um vier bis fünf Jahre für über 70 -Jährige einer um 47 Prozent geringeren Wahrscheinlichkeit, dass sie vor ihrem Tod an Alzheimer-Symptomen leiden. Die zwei- und einsprachigen Patienten wurden im Hinblick auf ihre berufliche Stellung abgeglichen, die zweisprachigen Personen hatten aber im Durchschnitt keine höhere, sondern eine
niedrigere
Bildung. Da bessere Bildung mit einer geringeren Häufigkeit der Alzheimer-Symptome gekoppelt ist, lässt sich das seltenere Auftreten bei den zweisprachigen Patienten nicht mit dem Bildungsstand erklären: Die Krankheit war bei ihnen seltener,
obwohl
sie einen niedrigeren Bildungsstand hatten. Noch ein weiterer Befund war faszinierend: Bei einem bestimmten Grad der kognitiven Beeinträchtigung war die Gehirnschrumpfung, die mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen wurde, bei zweisprachigen Patienten
stärker
als bei einsprachigen. Oder anders ausgedrückt: Zweisprachige Patienten leiden bei dem gleichen Grad von Gehirnschrumpfung an geringeren kognitiven Beeinträchtigungen als einsprachige: Zweisprachigkeit bietet also einen partiellen Schutz gegen die Folgen der Gehirnschrumpfung.
Der Schutz, den die Zweisprachigkeit in dieser Hinsicht bietet, unterliegt nicht den gleichen Interpretationsunsicherheiten wie die Frage nach Ursache und Wirkung beim scheinbaren Schutz durch Bildung und anregende zwischenmenschliche Aktivitäten. Letztere sind möglicherweise nicht die Ursache, sondern die Folgen des ersten Stadiums von Alzheimer-Schäden; und auch genetische Faktoren, die jemanden zum Streben nach Bildung und zwischenmenschlichen Aktivitäten veranlassen, könnten vor der Alzheimer-Krankheit schützen. Ob aber jemand zweisprachig wird,
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