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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Vorteil.
    Was ist unter »exekutiver Funktion« zu verstehen? Stellen wir uns einmal einen Menschen vor, der irgendetwas tut – er überquert beispielsweise eine Straße. Denken wir außerdem daran, dass wir ständig auf vielen Wegen mit Sinnesinformationen bombardiert werden: Wir sehen, hören, riechen, tasten, schmecken und haben unsere eigenen Gedanken. Auf die Sinne des Fußgängers strömen die Bilder der Reklametafeln und der Wolken am Himmel ein, die Geräusche von sprechenden Menschen und singenden Vögeln, die Gerüche der Stadt, die Tastwahrnehmung der Füße auf dem Straßenpflaster und der schwingenden Arme, die Erinnerung an das, was seine Frau beim Frühstück gesagt hat. Würde der Fußgänger die Straße nicht überqueren, könnte er sich auf die Worte von Menschen, den Anblick der Reklametafeln oder die jüngsten Äußerungen seiner Frau konzentrieren. Wenn er aber über die Straße geht, hängt sein Überleben davon ab, dass er sich auf den Anblick und die Geräusche der Autos konzentriert, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit von beiden Seiten auf ihn zukommen, und auf das Gefühl seiner Füße, die vom Bordstein auf die Fahrbahn treten. Mit anderen Worten: Um im Leben überhaupt etwas tun zu können, müssen wir in jedem Augenblick 99  Prozent aller Sinneswahrnehmungen und Gedanken hemmen und uns auf das eine Prozent konzentrieren, das für die gerade bevorstehende Aufgabe von Bedeutung ist. Dieser Gehirnprozess der exekutiven Funktion, auch kognitive Kontrolle genannt, ist nach heutiger Kenntnis in einem Gehirnareal angesiedelt, das als präfrontaler Cortex bezeichnet wird. Er versetzt uns in die Lage, selektive Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, Ablenkungen zu vermeiden, uns auf die Lösung eines Problems zu konzentrieren, zwischen verschiedenen Aufgaben umzuschalten und aus unserem riesigen Vorrat an Wörtern und Informationen diejenigen abzurufen und zu nutzen, die gerade gebraucht werden. Die exekutive Kontrolle ist also äußerst wichtig: Nur mit ihrer Hilfe können wir angemessen funktionieren. Bei Kindern entwickelt sich die exekutive Kontrolle insbesondere ungefähr im Laufe der fünf ersten Lebensjahre.
    Bei zweisprachigen Menschen hat die exekutive Kontrolle eine besondere Funktion. Einsprachige Menschen hören ein Wort und vergleichen es mit ihrem einzigen Wortvorrat, und aus diesem Vorrat beziehen sie auch ein Wort, wenn sie es äußern. Wer zweisprachig ist, muss die Sprachen getrennt halten. Jedes Mal, wenn ein solcher Mensch ein Wort hört, muss er sofort wissen, nach welchem Satz willkürlicher Regeln es zu interpretieren ist: Eine Person, die Spanisch/Italienisch-zweisprachig ist, hat beispielsweise gelernt, dass die Laute »b-u-rr-o« auf Spanisch »Esel« und auf Italienisch »Butter« bedeuten. Wenn ein zweisprachiger Mensch etwas sagt, muss er jedes Mal die Wörter aus der Sprache abrufen, in der das Gespräch gerade geführt wird, nicht aber aus der anderen. Mehrsprachige Menschen, die sich in einer Gruppe an einer zweisprachig geführten Unterhaltung beteiligen, und auch skandinavische Warenhausverkäufer müssen alle paar Minuten oder in noch kürzeren Abständen zwischen diesen willkürlichen Regeln hin und her schalten.
    Wie wichtig die exekutive Kontrolle für mehrsprachige Menschen ist, wurde mir besonders deutlich, als ich einmal einen peinlichen Fehler beging. Als ich mich 1979 zum Arbeiten nach Indonesien begab und anfing, die indonesische Sprache zu erlernen, hatte ich bereits längere Zeit in Deutschland, Peru und Papua-Neuguinea gelebt, und ich konnte bequem Deutsch, Spanisch oder Tok Pisin sprechen, ohne diese Sprachen untereinander oder mit dem Englischen durcheinanderzubringen. Ebenso hatte ich einige weitere Sprachen (insbesondere Russisch) gelernt, ohne aber lange genug in den jeweiligen Ländern zu leben und durch ständigen Gebrauch Erfahrungen mit ihnen zu sammeln. Als ich anfangs versuchte, mich mit meinen indonesischen Freunden zu unterhalten, ertappte ich mich zu meinem Erstaunen dabei, wie ich in meinem Bemühen, ein indonesisches Wort auszusprechen, das russische Wort mit der gleichen Bedeutung verwendete, und das, obwohl das Indonesische und das Russische überhaupt nicht verwandt sind! Offensichtlich hatte ich gelernt, Englisch, Deutsch, Spanisch und Tok Pisin in vier säuberlich kontrollierte Schubladen einzuordnen, aber darüber hinaus besaß ich noch eine fünfte, undifferenzierte Schublade mit der Aufschrift »andere Sprachen als

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