Vermächtnis
drücken. Tatsächlich entwickelt sich aber die Fähigkeit, gehörte Sprache zu erkennen, bei Säuglingen schon, lange bevor sie selbst sprechen können. Ihre Unterscheidungsfähigkeit kann man testen, indem man beobachtet, ob sie lernen, sich auf zwei verschiedene Laute hin unterschiedlich zu orientieren. Wie sich dabei herausstellt, können schon neugeborene Säuglinge, die noch mit keiner Sprache der Welt in Kontakt gekommen sind, zwischen vielen Konsonanten und Vokalen unterscheiden, deren Abgrenzung in dieser oder jener Sprache eine Rolle spielt, ganz gleich, ob es sich dabei um ihre »Muttersprache« handelt (die sie nur von innerhalb des Mutterleibes gehört haben können) oder nicht. Wenn sie dann im Laufe des ersten Lebensjahres hören, wie um sie herum gesprochen wird, verlieren sie diese Fähigkeit, Unterscheidungen zu erkennen, die nicht zu ihrer Muttersprache gehören und die sie deshalb nicht zu hören bekommen; dafür verstärkt sich die Fähigkeit, die Unterscheidungen der Muttersprache zu erkennen. Das Englische unterscheidet beispielsweise zwischen den Fließlauten L und R, das Japanische dagegen nicht; deshalb hört sich das Englisch japanischer Muttersprachler an, als würden sie »lots of luck« fälschlich wie »rots of Ruck« aussprechen. Umgekehrt unterscheidet die japanische Sprache zwischen kurzen und langen Vokalen, im Englischen ist dies nicht der Fall. Neugeborene japanische Säuglinge können aber zwischen L und R unterscheiden, und neugeborene Engländer unterscheiden zwischen langen und kurzen Vokalen; in beiden Fällen geht die die Fähigkeit während des ersten Lebensjahres verloren, weil die Unterscheidung keinen Inhalt transportiert.
Studien aus jüngerer Zeit beschäftigten sich mit sogenannten »Früh-Zweisprachlern«, das heißt mit Säuglingen, deren Mutter und Vater unterschiedliche Muttersprachen sprechen, sich aber entschieden haben, jeweils vom ersten Tag an in ihrer eigenen Sprache mit dem Kind zu sprechen, so dass das Kind von Anfang an mit zwei Sprachen aufwächst. Gewinnen solche Früh-Zweisprachler bereits gegenüber einsprachigen Kindern den Vorteil der exekutiven Funktion, der sich nach dem Sprechenlernen daran zeigt, dass sie besser mit veränderlichen Regeln und verwirrenden Informationen umgehen können? Und wie testet man die exekutive Funktion bei einem Kind, bevor es sprechen lernt?
Eine scharfsinnige Studie führten die Wissenschaftler Agnes Kovacs und Jacques Mehler in der italienischen Stadt Triest durch. Sie verglichen sieben Monate alte »einsprachige« Säuglinge mit »zweisprachigen«, die neben dem Italienischen auch Slowenisch, Spanisch, Englisch, Arabisch, Dänisch, Französisch oder Russisch hörten, weil die Mutter die eine und der Vater die andere Sprache sprach. Die Säuglinge wurden trainiert, konditioniert und für richtiges Verhalten belohnt, indem man ihnen ein hübsches Bild einer Puppe zeigte, das auf der linken Seite eines Computerbildschirms erschien; die Kinder lernten, in die Richtung des Bildes zu blicken, und hatten offensichtlich Spaß daran. Der Test bestand darin, dass den Kindern ein unsinniges Wort aus drei Silben mit der Struktur AAB , ABA oder ABB (zum Beispiel lo-lo-vu, lo-vu-lo, lo-vu-vu) vorgesprochen wurde. Nur bei einer dieser drei Strukturen (zum Beispiel lo-lo-vu) erschien die Puppe auf dem Bildschirm. Im Laufe von sechs Versuchen lernten »ein-« und »zweisprachige« Säuglinge, in Erwartung des hübschen Puppenbildes auf die linke Seite des Bildschirms zu blicken. Dann änderte der Versuchsleiter die Regeln und ließ die Puppe auf das Unsinnswort lo-lo-vu, nicht aber bei lo-vu-lo auf der rechten (und nicht der linken) Seite des Bildschirms auftauchen. Die »zweisprachigen« Säuglinge hatten nach sechs Versuchen die frühere Lektion verlernt und die richtige neue Reaktion verinnerlicht; die »einsprachigen« Kinder dagegen schauten auch nach zehn Versuchen immer noch auf die jetzt falsche Seite des Bildschirms, wenn sie das jetzt falsche Wort hörten.
Die Alzheimer-Krankheit
Aus diesen Befunden kann man extrapolieren und spekulieren, dass zweisprachige Menschen gegenüber einsprachigen nicht nur bei trivialen Aufgaben wie der Unterscheidung zwischen lo-lo-vu und lo-vu-lo im Vorteil sind, sondern auch, wenn es darum geht, sich in unserer verwirrenden Welt mit ihren sich wandelnden Regeln zurechtzufinden. Manch einer wird aber Belege für handfestere Nutzeffekte fordern, bevor er sich entschließt, mit kleinen
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