Vermächtnis
einzigen Konsonanten in diesen Namen waren
k
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p
,
r
und
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. Später erfuhr ich, dass die Sprache von Rotokas insgesamt nur sechs Konsonanten kennt, die geringste Zahl aller bekannten Sprachen auf der Welt. Zum Vergleich: Im Englischen sind es 24 , in der ausgestorbenen ubychischen Sprache in der Türkei waren es ungefähr 80 . Den Menschen von Rotokas, die in einem tropischen Regenwald auf dem höchsten Berg im Südwestpazifik östlich von Neuguinea leben, ist es irgendwie gelungen, einen reichhaltigen Wortschatz zu entwickeln und präzise zu kommunizieren, dabei aber auf weniger Grundlaute zurückzugreifen als jedes andere Volk auf der Erde.
Heute jedoch verschwindet die Musik ihrer Sprache aus den Bergen von Bougainville und aus der ganzen Welt. Die Rotokas-Sprache ist nur eine von 18 Sprachen auf einer Insel, die halb so groß wie Rheinland-Pfalz ist. Nach der letzten Zählung wurde sie nur von 4320 Menschen gesprochen, Tendenz fallend. Mit ihrem Verschwinden geht ein 30 000 Jahre währendes Experiment der Kommunikation und kulturellen Entwicklung zu Ende. Dieses Verschwinden steht beispielaft für eine bevorstehende Tragödie: Nicht nur die Sprache von Rotongas geht verloren, sondern auch die meisten anderen Sprachen der Welt. Linguisten stellen erst seit kurzem ernsthafte Schätzungen über die Geschwindigkeit des weltweiten Sprachensterbens an und diskutieren darüber, was man dagegen tun kann. Wenn sich das Sprachensterben im derzeitigen Tempo fortsetzt, werden die meisten Sprachen, die es heute noch gibt, bis zum Jahr 2100 entweder ausgestorben sein, oder sie sind zum Sterben verurteilt, weil sie nur noch von alten Menschen gesprochen und nicht von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden.
Natürlich ist das Sprachensterben kein neues Phänomen, das es erst seit 70 Jahren gibt. Wie wir aus alten schriftlichen Aufzeichnungen wissen und aus der Verteilung von Sprachen und Völkern schließen können, sterben Sprachen schon seit Jahrtausenden aus. Von römischen Autoren sowie aus Schriftfragmenten auf antiken Baudenkmälern und Münzen aus dem Gebiet des Römischen Reiches wissen wir, dass das Lateinische die keltischen Sprachen verdrängte, die früher im heutigen Frankreich und Spanien gesprochen wurden, und in Italien selbst trat es an die Stelle des Etruskischen, Umbrischen, Oskischen, Faliskischen und anderer Sprachen. Erhaltene Texte auf Sumerisch, Hurritisch und Hethitisch zeugen von heute verschwundenen Sprachen, die vor Jahrtausenden im Fruchtbaren Halbmond gesprochen wurden. Die Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachfamilie nach Westeuropa, die vor ungefähr 9000 Jahren begann, ließ alle ursprünglichen europäischen Sprachen mit Ausnahme des Baskischen in den Pyrenäen verschwinden. Wir können annehmen, dass afrikanische Pygmäen, Jäger und Sammler auf den Philippinen und in Indonesien sowie Völker im alten Japan heute verschwundene Sprachen benutzten, die (in der gleichen Reihenfolge) von den Bantusprachen, austronesischen Sprachen und dem modernen Japanisch verdrängt wurden. Eine weit größere Zahl von Sprachen muss verschwunden sein, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Trotz aller Belege für das Verschwinden von Sprachen in früheren Zeiten besteht ein Unterschied zum heutigen Sprachensterben: Dieses spielt sich in wesentlich höherem Tempo ab. Nach dem Sprachensterben der letzten 10 000 Jahre sind heute noch 7000 Sprachen übrig, in rund 100 Jahren werden es nur noch wenige hundert sein. Dieses Rekordtempo des Sprachensterbens ist auf die vereinheitlichenden Effekte der Globalisierung und der Staatsregierungen auf der ganzen Welt zurückzuführen.
Als Beispiel für das Schicksal der meisten Sprachen können wir die 20 einheimischen Sprachen der Inuit und Indianer in Alaska betrachten. Die Eyak-Sprache, die früher von einigen hundert Indianern an der Südküste Alaskas gesprochen wurde, war bis 1982 auf zwei Muttersprachlerinnen geschrumpft: Marie Smith Jones und ihre Schwester Sophie Borodkin (Abb. 47 ) . Ihre Kinder sprachen nur Englisch. Als Sophie 1992 mit 80 Jahren und Marie 2008 mit 93 Jahren gestorben war, verstummte die Sprachwelt der Eyak endgültig. Siebzehn weitere einheimische Sprachen in Alaska sind zum Aussterben verurteilt, das heißt, kein einziges Kind lernt sie noch. Sie werden zwar von älteren Menschen gesprochen, aber fast alle haben jeweils weniger als 1000 Sprecher, und wenn der Letzte von ihnen stirbt, wird sie das gleiche Schicksal ereilen
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