Vermächtnis
entscheidet sich in der frühen Kindheit, viele Jahrzehnte bevor im Gehirn die ersten Alzheimer-bedingten Schäden entstehen, und unabhängig von den Genen. Die meisten zweisprachigen Menschen werden nicht durch eigene Entscheidung oder ihre Gene zweisprachig, sondern weil sie zufällig in einer zweisprachigen Gesellschaft aufgewachsen sind oder weil ihre Eltern aus ihrer Heimat in ein Land mit einer anderen Sprache eingewandert sind. Deshalb legen die geringeren Alzheimer-Symptome zweisprachiger Menschen die Vermutung nahe, dass die Zweisprachigkeit selbst vor diesen Symptomen schützt.
Wie kann das sein? Eine kurze Antwort ist das Sprichwort »use it or lose it« (benutze es oder verliere es). Die Funktion der meisten Systeme im Organismus verbessert sich durch Übung; übt man sie nicht, verkümmert ihre Funktion. Das ist der Grund, warum Sportler trainieren und Künstler üben. Ebenso ist es der Grund, warum Alzheimer-Patienten aufgefordert werden, Bridge zu spielen, sich mit Online-Spielen zu beschäftigen oder Sudokus zu lösen. Aber die dauerhafteste Übung, die es für ein Gehirn gibt, ist die Zweisprachigkeit. Selbst ein Bridge- oder Sudoku-Fan kann nur während eines Teils des Tages Bridge spielen oder Sudokus lösen, zweisprachige Menschen dagegen trainieren ihr Gehirn in jeder Sekunde, in der sie wach sind. Ihr Gehirn muss sich bewusst oder unbewusst ständig entscheiden: »Soll ich nach den willkürlichen Regeln der Sprache A oder der Sprache B sprechen, denken oder Laute, die ich höre, interpretieren?«
Manch einer teilt wahrscheinlich mein Interesse an einigen unbeantworteten, aber naheliegenden Fragen für die Zukunft. Wenn eine zusätzliche Sprache bereits einen gewissen Schutz bietet, bieten dann zwei Sprachen noch mehr Schutz? Und wenn ja: Verstärkt sich der Schutz in unmittelbarem Verhältnis zur Zahl der Sprachen, oder ist der Anstieg steiler oder weniger steil? Wenn beispielsweise zweisprachige Menschen durch ihre eine zusätzliche Sprache für vier Jahre geschützt sind, ist dann ein Neuguineer, ein australischer Ureinwohner, ein Vaupes-Indianer oder ein skandinavischer Verkäufer, der fünf Sprachen spricht (vier neben der ursprünglichen Muttersprache), ebenfalls nur vier Jahre geschützt, oder verschafft er sich damit einen Schutz von 4 x 4 = 16 Jahren, oder (wenn das Jonglieren mit vier Sprachen mehr als viermal so anspruchsvoll ist wie das Jonglieren mit nur einer zusätzlichen Sprache) erweitert sich der Schutz vielleicht sogar auf 50 Jahre? Kann jemand, der Pech hatte und von seinen Eltern nicht als früh-zweisprachiges Kind großgezogen wurde und auch in der Schule vor dem 14 . Lebensjahr keine Fremdsprache gelernt hat, die früh-zweisprachigen Kinder im Hinblick auf den Nutzen noch einholen? Beide Fragen sind von theoretischem Interesse für Linguisten und von praktischer Bedeutung für Eltern, die sich fragen, wie sie ihre Kinder am besten großziehen. Das alles lässt darauf schließen, dass Zwei- und Mehrsprachigkeit auch unabhängig von dem praktischen Nutzen eines kulturell bereichernden Lebens und unabhängig von der Frage, ob Sprachenvielfalt für die Welt als Ganzes gut oder schlecht ist, für die betreffenden Menschen große praktische Vorteile mit sich bringt.
Sterbende Sprachen
Die 7000 Sprachen der Welt sind in vielerlei Hinsicht ungeheuer vielgestaltig. Als ich beispielsweise einmal auf der Pazifikinsel Bougainville im Dschungel rund um das Dorf Rotokas die Vogelbestände erfasste, rief der Dorfbewohner, der mich führte und die einheimischen Vögel für mich in der Rotokas-Sprache benannte, plötzlich
»Kópipi!«
und machte mich damit auf den schönsten Vogelgesang aufmerksam, den ich jemals gehört hatte. Er bestand aus silberhellen Pfeiftönen und Trillern, die in langsam ansteigenden Phrasen von zwei oder drei Tönen zusammengefasst waren; jede Phrase war anders als die vorherige, und das Ganze erzielte eine Wirkung wie eines der täuschend einfachen Lieder von Franz Schubert. Wie sich herausstellte, war der Sänger eine langbeinige Grasmücke mit kurzen Flügeln, die der abendländischen Wissenschaft bis dahin unbekannt war.
Im Gespräch mit meinem Begleiter wurde mir allmählich klar, dass zur Musik in den Bergen von Bougainville nicht nur der Gesang des
kópipi
gehörte, sondern auch der Klang der Sprache von Rotokas. Mein Begleiter nannte mir einen Vogelnamen nach dem anderen:
kópipi, kurupi, vokupi, kopikau, kororo, keravo, kurue, vikuroi
… Die
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