Vermählt mit einem Fremden
Gefühle für ihn zu entwirren. Er war verletzt, sein Verstand nicht ganz klar, und er steckte in Schwierigkeiten. Verdiente er nicht ihr Mitgefühl, ihr Verständnis?
Andererseits, wem nützte es, wenn sie wusste, ob sie ihn verurteilen musste oder sich sorgen, ob er seine Seele oder gar Englands Sicherheit verkaufte? Es war völlig irrelevant, ob er ein Verräter war oder nicht, denn wenn er sich erst erholt hatte, würde er sich aufmachen – zu welch schändlichem Tun auch immer –, und sie würde ihn nie wiedersehen.
Trotz dieser Erkenntnis erlaubte Harriette sich einen Augenblick purer Träumerei, puren Selbstbetrugs und ergab sich ihren weiblichen Gefühlen. Der Klang seiner Stimme, tief und geschmeidig, schmeichelte ihrem Ohr ebenso, wie der Anblick seiner schönen Züge ihr Auge erfreute. Eine winzige Weile konnte sie so tun, als gehörte er ihr, so tun, als wäre dies hier ihrer beider Heim, in das die Welt draußen nicht eindringen konnte, wo sie leben konnten, wie es ihnen gefiel. Sie würden über die Klippen wandern, Hand in Hand, er würde ihr sagen, wie schön sie war und dass sein Herz nur für sie schlug, und sie würde ihm sagen, dass ihm ihr Herz zugeflogen war wie ein zahmes Vögelchen. Und in der Nacht würde er sie in seinen Armen halten und sie all die Wonnen lehren, die Mann und Frau miteinander teilen konnten, würde sie streicheln und küssen und würde sich nackt an sie schmiegen … Schadete es denn, sich auszumalen, wie er sie atemlos, in heißer Wonne auf das Laken drückte und sie sich zu eigen machte?
Schluss damit! Harriette, eben noch verträumt lächelnd, verzog verächtlich den Mund. Es war doch alles nur Einbildung, ein Produkt ihrer betrüblichen Fantasie. So wenig, wie sie billigte, dass er ein Spion war, würde er ihre Schmuggelei billigen! Dennoch beugte sie sich kurz zu ihm nieder, strich sinnend über die Muskeln seines gesunden Arms und umfing sein Handgelenk, wo der Puls gegen ihre Finger pochte, nahm seine Hand und erbebte unwillkürlich, als seine Finger sich um die ihren schlangen.
Gleich, was er war und wer er war, sie war froh, ihn in Sicherheit zu wissen.
„Schlaf nur“, flüsterte sie, „ich werde dich hüten.“
Ihr fiel ein, dass sie noch immer nicht seinen Namen kannte.
Die Nacht zog sich hin. Der Mann schlief, doch sehr unruhig. Als sein Atem kurz und hastig ging, flößte Harriette ihm einen von Meggies abscheulichen, aber wirksamen Kräutertränken ein, der sicherlich besser wirkte, als was immer ihm in dem örtlichen Gasthof zuteil geworden wäre. Und da sie Jenny nicht noch einmal wecken wollte, nahm sie es auf sich, hier am Bett über den Fremden zu wachen. Stunde um Stunde verging. Manchmal stand sie auf und reckte sich. Dann versuchte sie, beim flackernden Licht der zwei Kerzen zu lesen, gab es aber bald auf. Schließlich saß sie einfach da und sah besorgt, wie Schmerz und Verwirrung über das Gesicht des Mannes huschten. Inbrünstig wie seit Langem nicht betete sie, dass er nur fiebern möge und es bald vorbeigehen werde.
Es war schon weit nach Mitternacht, als seine Unruhe zunahm; er krallte die Hände in das Laken und warf den Kopf hin und her. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, und seine Brust glänzte feucht. Er riss die Augen auf, doch sein Blick war trüb und leer.
„Pscht, ruhig.“ Voller Angst, dass die Wunden durch seine heftigen Bewegungen wieder aufbrechen könnten, stand sie auf und tupfte ihm mit einem feuchten, nach Lavendel duftenden Tuch die Stirn ab. „Ganz ruhig, es ist alles gut.“
Wie als Reaktion auf ihre Worte umklammerte er flehend ihr Handgelenk. Mit rauer, angstvoller Stimme murmelte er: „Marie-Claude. Sind Sie Marie-Claude?“
„Nein.“
„Wo ist sie?“
Angesichts seiner Verzweiflung konnte sie nicht anders als sagen: „Sie ist in Sicherheit.“
„Ich kann sie nicht finden …“ Fester umschloss er ihren Arm.
„Das kommt schon. Schlafen Sie jetzt …“
Einen Moment lag er still, dann begannen seine Hände zu zucken, als wäre er immer noch in Albträumen gefangen.
„Aber sie ist fort, verloren“, flüsterte er mit weit aufgerissenen Augen. „Ich kann sie nicht finden.“
Irgendwie hatte Harriette den Wunsch, ihn von dem, was ihn so sehr beschäftigte, abzulenken. Als ob sie ihn so im Jetzt verankern, die Schrecken seiner Traumwelt verscheuchen könnte, nahm sie seine Hand fest zwischen ihre beiden Hände. „Ruhig, Sie müssen schlafen. Ich werde die bösen Träume
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