Vermiss mein nicht
auch eine?« Jetzt wandte er die gleiche Methode an wie meine Eltern – auch sie redeten in solchen Fällen gern in einem Ton, als wäre alles in Butter, nur um mich nicht noch mehr in Panik zu versetzen. Jedenfalls hatte ich das gedacht, als ich klein war. Inzwischen hatte ich von Gregory erfahren, dass er die Atmosphäre nicht etwa für mich zu entspannen versuchte, sondern sich selbst zuliebe. Ich hörte auf zu suchen und beobachtete, wie er in der Küche herumwerkte, als würde er jeden Morgen um zwei Tee kochen. Ich beobachtete, wie er gute Miene zum bösen Spiel machte und so tat, als wäre es das Alltäglichste der Welt, dass seine Freundin – die mal seine Freundin war und dann mal wieder nicht – halbnackt auf dem Teppich hockte und ihren Waschbeutel auskippte, um eine Zahnbürste zu suchen, obwohl im Badezimmer ein durchaus funktionstüchtiges Exemplar auf sie wartete. Ich beobachtete, wie er sich selbst gezielt etwas vormachte, und mit einem Lächeln verliebte ich mich plötzlich aufs Neue in ihn, in diese kleine Schwäche, die mir bisher vollkommen entgangen war.
»Vielleicht ist sie unterwegs aus dem Auto gefallen«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.
»Es regnet, Sandy, du willst doch jetzt nicht raus, oder?«
Er hätte gar nicht fragen müssen, denn er kannte die Antwort. Aber er spielte immer noch mit. Jetzt ging es darum, so zu tun, als würde seine auf ewig treue Vollzeitfreundin in die dunkle Regennacht hinausrennen, um etwas zu suchen. Wie außergewöhnlich, wie wundersam wahnsinnig, wie verführerisch verrückt. Was für ein Spaß!
Ich sah mich im Wohnzimmer nach einer Jacke oder einer Decke um, die ich überwerfen konnte. Nichts Brauchbares, so weit das Auge reichte. In diesem Zustand wirkte ich äußerlich oft ganz ruhig, während ich innerlich hektisch hin und her rannte, schreiend, rufend, nervös nach einer Chance Ausschau haltend, endlich aktiv zu werden. Die Treppe hinaufzulaufen und mir etwas überzuziehen dauerte mir zu lange, denn es verschlang kostbare Zeit von meiner Suche. Ich sah Gregory an, der Wasser in den witzigen Becher goss, den ich ihm vorige Weihnachten geschenkt hatte. Offensichtlich sah er die Verzweiflung in meinen Augen, den stummen Hilferuf. Aber er blieb cool, wie üblich.
»Okay, okay«, sagte er und warf resigniert die Hände in die Luft. »Du kannst meinen Bademantel haben.«
Eigentlich hatte ich gar nicht an diese Möglichkeit gedacht.
»Danke.« Ich stand auf und ging in die Küche.
Unterdessen öffnete er den Gürtel, ließ den Bademantel lässig von den Schultern rutschen und gab ihn mir. Jetzt hatte er nur noch seine karierten Pantoffeln und die silberne Kette an, die ich ihm im vorigen Jahr zu seinem vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ich lachte und wollte den Bademantel nehmen, aber er hielt ihn fest. Dann wurde er ernst.
»Bitte geh nicht raus, Sandy.«
»Ach Gregory, tu das nicht«, murmelte ich und zerrte an dem Bademantel. Auf diese Diskussion hatte ich überhaupt keine Lust, ich wollte nicht noch einmal alles durchkauen. Wir hatten uns dabei schon so oft im Kreis gedreht, nichts gelöst und uns am Ende nur für die Beleidigungen entschuldigt, die wir uns an den Kopf geworfen hatten, statt uns den wirklichen Problemen zu stellen.
Er machte ein trauriges Gesicht. »Bitte, Sandy,
bitte
lass uns wieder ins Bett gehen. In vier Stunden muss ich schon wieder raus.«
Ich hörte auf zu zerren und sah ihn an, wie er da nackt vor mir stand. Aber sein Gesichtsausdruck enthüllte viel mehr. Was immer es war in diesem Gesicht, an der Art, wie er mich ansah, wie sehr er sich wünschte, dass ich nicht wegging, wie wichtig es für ihn zu sein schien, dass ich bei ihm war – irgendetwas in mir streckte bei diesem Anblick jedenfalls die Waffen.
Ich ließ den Bademantel los. »Okay.« Ich gab nach.
Ich gab nach!
»Okay«, wiederholte ich, diesmal mehr zu mir selbst. »Ich gehe wieder ins Bett.«
Gregory sah gleichzeitig überrascht, erleichtert und verwirrt aus, aber er drängte nicht, er fragte nicht, er wollte den Augenblick nicht kaputtmachen, den Traum nicht zerstören, er wollte nicht riskieren, mich wieder in die Flucht zu jagen. Stattdessen nahm er meine Hand, wir gingen stumm hinauf ins Schlafzimmer und ließen meine Klamotten und den Inhalt meines Waschbeutels auf dem Boden verstreut hinter uns zurück. Zum ersten Mal hatte ich einer derartigen Situation den Rücken gewandt und war einfach in die andere Richtung marschiert. Da war
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