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Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
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Sehnsucht aufwarfen.
    Doch nun saß Carol vor mir. Mutter von drei Kindern, Hausfrau aus Donegal, zweiundvierzig, Mitglied des heimischen Kirchenchors, vor vier Jahren auf dem Rückweg vom Chor verschwunden. Eine Woche davor hatte sie ihren Führerschein gemacht, am Abend davor hatte ihr Mann mit der ganzen Familie seinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert, und in der darauf folgenden Woche stand die Schultheateraufführung ihrer jüngsten Tochter an. Ich betrachtete ihr verschüchtertes Mausgesicht, die braunen, hinter die Ohren geklemmten strähnigen Haare, die Hände, die auf ihrem Schoß eine Handtasche umklammerten, und ich wollte nichts lieber, als sie umgehend nach Hause zu führen.
    »Also, Carol«, begann ich leise. »Erzählen Sie mir doch erst einmal ein bisschen was von sich.«
     
    Wir saßen alle im Kreis in der großen Gemeinschaftshalle, ich mit dem Gesicht zur Bühne mit den vielen Handabdrücken.
Kraft und Hoffnung
, wiederholte ich in Gedanken. Kraft und Hoffnung hatten mich durch den heutigen Tag gebracht, ich war immer noch wie berauscht von den Begegnungen, aber ich wusste, dass sich schon sehr bald die Erschöpfung breitmachen würde. Sobald alle ihre Plätze eingenommen hatten, war ich lieber wieder auf die Beobachterposition außerhalb des Kreises gewechselt. Alte Gewohnheiten sind hartnäckig. Aber Helena hatte mich zu sich gerufen, und ein Chor von fünfzehn weiteren Stimmen hatte mich ebenfalls gedrängt, mich der Gruppe anzuschließen. Also setzte ich mich zu den anderen, war mir allerdings bewusst, dass ich solche Situationen mein Leben lang tunlichst vermieden hatte. Ich musste aufpassen, dass meine Beine nicht ganz von selbst aufstanden und zur Tür rannten, während meine Lippen die passenden Ausreden formten.
    Helena hatte die Idee, wir sollten einander besser kennenlernen und erzählen, wie und wann wir alle verschwunden waren. Das nannte sie einen Team-Workshop zur Unterstützung der Produktion, aber ich wusste, dass sie es in Wirklichkeit für mich tat – damit ich besser verstand, wo wir waren und wie wir hergekommen waren.
    Nacheinander erzählten alle, wie sie hier gelandet waren. Es war eine sehr emotionale Erfahrung – manche waren erst seit wenigen Jahren da, andere schon über ein Jahrzehnt, aber die Erkenntnis, nie wieder nach Hause zurückkehren zu können, ging allen offensichtlich noch sehr nah. Viele weinten. Ich natürlich nicht, denn meine Tränen schienen auf dem Weg vom Herzen zu den Augen aus irgendeinem Grund zu verdampfen, bis nur noch ein trauriger Nebel von ihnen übrig war, der unsichtbar in die Luft stieg. Fasziniert lauschte ich den Berichten der anderen. So oft hatte ich an den Stellen, wo eine vermisste Person zuletzt gesehen worden war, jeden Zentimeter akribisch untersucht, war unnützen Spuren gefolgt oder hatte völlig unschuldige Menschen verdächtigt. Dabei war alles ganz einfach – die Vermissten waren hier!
    Wenn doch nur auch Jenny-May Butler und Donal Ruttle aufgetaucht wären, die fehlenden acht auf meiner Liste und all die anderen Menschen, die irgendwann verschwunden waren. Ich betete, dass Jenny-May nichts Schlimmes zugestoßen war, und falls doch, dass es schnell und schmerzlos geschehen war. Aber vor allem betete ich, dass sie hier war, hier an diesem seltsamen Ort.
    Es war umwerfend, diese Leute zu beobachten. Ich war eine Fremde für sie, und doch waren sie meine besten Freunde. So viele Geschichten wollte ich ihnen erzählen, über die ich gelacht und mit denen ich mich identifiziert hatte. Ich wollte ihnen von ihren Bekannten berichten, mit denen ich mich unterhalten hatte. Ich wollte ihnen sagen, dass ich mich in ähnlichen Situationen befunden hatte wie sie. So hatte ich mich in meinem früheren Leben nie gefühlt. Auf einmal wollte ich dazugehören, wollte persönliche Anekdoten austauschen, wollte eine von ihnen sein.
    Auf einmal schwiegen alle und schauten mich an.
    »Nun?«, fragte Helena und zog ihren zitronengelben Pashminaschal um die Schultern.
    »Nun was?«, fragte ich und sah verwirrt in die Runde.
    »Willst du uns nicht erzählen, wie du hierhergekommen bist?«
    Am liebsten hätte ich damit angefangen, dass ich eigentlich schon vor ihnen allen hier gewesen war. Aber ich tat es nicht. Stattdessen stand ich auf, entschuldigte mich und verließ die Gemeinschaftshalle.
     
    Später am Abend saß ich mit Helena und Joseph an einem ruhigen Tisch im Speisehaus. Auf allen Tischen flackerten Kerzen, und in der Mitte

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