Vermiss mein nicht
wartete bereits in der Auffahrt, als Jack eintrudelte. Er war dünn, noch dünner als sonst, und auch sein Gesicht war noch bleicher und verhärmter als üblich. Aber Donals Verschwinden hatte sie ja alle mitgenommen, es war fast, als hätte er, als er in jener Nacht aus dem Fish-and-Chips-Laden torkelte und gegen den Türrahmen stieß, die Erde aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass sie jetzt unaufhaltsam in die falsche Richtung raste. Nichts schien mehr am richtigen Platz zu sein.
Die beiden jungen Männer umarmten einander. Alan begann zu weinen, und Jack musste sich zusammennehmen, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Aber er riss sich zusammen und ließ Alan an seiner Schulter schluchzen, während er seine eigenen Tränen wegblinzelte und sich auf das konzentrierte, was real war, was er anfassen konnte – auf alles außer Donal.
Später saßen sie im Wohnzimmer. Mit zittriger Hand klopfte Alan die Asche von seiner Zigarette in eine der leeren Bierdosen, die sich neben der Couch häuften. Im Zimmer herrschte Totenstille, und Jack hätte am liebsten zur Ablenkung den Fernseher angemacht.
»Ich bin hergekommen, um zu fragen, ob gestern eine Frau bei dir aufgetaucht ist. Sie hilft mir, Donal zu suchen.«
Augenblicklich hellte sich Alans Gesicht auf. »Ach ja?«
»Sie wollte dir nochmal ein paar Fragen stellen, wie das alles war in der Nacht, als Donal verschwunden ist.«
»Das hab ich der Polizei doch schon tausendmal erzählt. Und ich stell mir jeden Tag selbst die gleichen Fragen.« Er sog den Rauch der Zigarette tief ein und rieb sich mit seinen nikotinfleckigen Fingern müde die Augen.
»Ich weiß, aber ich denke, es ist gut, wenn man alles nochmal mit jemandem durchgeht, der noch einen ganz unverstellten Blick hat. Vielleicht haben wir ja was übersehen.«
»Vielleicht«, meinte Alan mit leiser Stimme, aber Jack bezweifelte, dass er das wirklich meinte. Wahrscheinlich gab es keinen Moment in jener Nacht, den Alan nicht schon endlose Male auseinandergenommen, analysiert und wieder zusammengesetzt hatte. Anzudeuten, er könnte eventuell etwas vergessen haben, war womöglich eine Beleidigung.
»Dann ist sie also nicht vorbeigekommen?«
Alan schüttelte den Kopf. »Ich sitz heute den ganzen Tag hier rum, ich hab gestern den ganzen Tag rumgesessen, und morgen wird es auch nicht anders«, brummte er deprimiert.
»Was ist mit deinem Job?«
Alan verzog das Gesicht, und Jack fragte lieber nicht weiter.
»Tust du mir trotzdem einen Gefallen?«, sagte er und gab Alan sein Handy. »Könntest du bitte diese Nummer anrufen und für mich einen Termin bei Dr. Burton vereinbaren? Ich möchte nicht, dass jemand dort meine Stimme erkennt.«
Es war typisch für Alan, dass er ganz selbstverständlich das Handy nahm, sich wortlos ein Bier aufmachte und wählte. »Hi, ich möchte gern einen Termin bei Dr. Burton vereinbaren«, sagte er, als jemand abhob.
Dann sah er Jack mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Für ein Beratungsgespräch?«
Jack nickte bestätigend.
»Wann ich am liebsten kommen möchte?« Wieder ein fragender Blick zu Jack.
»So bald wie möglich«, flüsterte der.
»So bald wie möglich«, wiederholte er, lauschte und blickte wieder zu Jack. »Nächsten Monat?«
Jack schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, ich möchte gern früher kommen, in meinem Kopf herrscht das totale Chaos, ich trau mir selbst nicht mehr über den Weg.«
Jack verdrehte die Augen.
Kurz darauf legte Alan auf. »Du hast am Donnerstag um zwölf einen Gesprächstermin.«
»Donnerstag?«, fragte Jack und sprang auf, als müsste er gleich aufbrechen.
»Na ja, du hast gesagt, so bald wie möglich«, erwiderte Alan und gab ihm das Telefon zurück. »Hat das vielleicht auch etwas mit der Suche nach Donal zu tun?«
Nach kurzem Nachdenken antwortete Jack: »Ja, irgendwie schon.«
»Ich hoffe, du findest ihn, Jack.« Erneut füllten sich seine Augen mit Tränen. »Ständig geht mir diese Nacht durch den Kopf, und ich wünsche mir so, ich wäre mit ihm weggegangen. Ich dachte wirklich, alles ist in Butter, wenn er sich da unten ein Taxi nimmt, weißt du.« Er schaute gequält drein, und seine Hand zitterte. Auf dem Boden lagen Aschehäufchen, und mit seinem nikotingelben Daumen ließ er stetig etwas nachrieseln.
»Woher hättest du es auch wissen sollen«, tröstete ihn Jack. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich hoffe so, dass du ihn findest«, wiederholte er, widmete sich seiner Bierdose und kippte den Inhalt
Weitere Kostenlose Bücher