Vermiss mein nicht
hinunter.
Jack ging, ließ ihn allein in dem stillen, leeren Haus sitzen und wusste, dass Alan immer wieder jene Nacht vor seinem inneren Auge vorüberziehen lassen würde, unablässig auf der Suche nach dem einen Hinweis, den sie alle bisher übersehen hatten. Mehr konnten sie nicht tun.
Siebenundzwanzig
Orla Keane, meine vermisste Person Nummer eins, betrat die Gemeinschaftshalle, und das Licht, das durch die Tür fiel, strahlte sie an wie ein Scheinwerfer. Bevor sie näher kam, zögerte sie kurz und versuchte sich zu fassen. Vor der großen Eichentür sah sie aus wie Alice im Wunderland, die gerade in einen von den kleinen Kuchen mit der Aufschrift »Iss mich« gebissen hat und geschrumpft ist. Nervös räusperte ich mich, und der Ton hallte von den Wänden und von der Decke wider wie ein losgelassener Pingpongball. Orla drehte sich nach dem Geräusch um, dann schickte sie sich an, die Halle zu durchqueren. Ihre hohen Absätze klapperten laut auf dem Holzfußboden.
Joan und Helena hatten an der hinteren Wand einen Tisch für mich aufgestellt, und Helena hatte zu Joans Enttäuschung darauf bestanden, dass sie beide hinausgingen, damit ich beim Vorsprechen meine Ruhe hatte. Fasziniert sah ich jetzt Orla entgegen. Unglaublich, dass diese Person einfach aus ihren Vermisstenfotos herausgetreten war und als lebendiger Mensch direkt auf mich zukam.
»Hallo!«, lächelte sie, und trotz der Zeit, die vergangen war, hörte man an ihrem Akzent immer noch, dass sie aus Cork stammte.
»Hallo«, brachte ich flüsternd hervor, räusperte mich wieder und versuchte es noch einmal lauter.
Dann schaute ich auf die Liste, die vor mir lag. Zwölf Vermisste musste ich heute zum Vorsprechen begrüßen, und danach noch Joan und Bernard. Der Gedanke, all diesen Leuten zu begegnen, brachte mich ganz aus dem Häuschen, und ich fühlte mich jetzt schon überfordert. Wie sollte ich das schwierige Thema nur ansprechen? Vorhin hatte ich Helena noch einmal gefragt, warum um alles in der Welt ich nicht einfach allen die Wahrheit sagen konnte und stattdessen diese Scharade durchziehen musste.
»Sandy«, hatte sie so streng erwidert, dass ich gar keine zusätzlichen Gründe mehr brauchte. »Wenn die Menschen nach Hause wollen, geraten sie leicht in Verzweiflung. Wenn sie erfahren, dass du auf der Suche nach ihnen den Weg hierher entdeckt hast, würde sie das womöglich zu der Annahme verleiten, dass sie mit dir zurückgehen können. Und du würdest hier deines Lebens nicht mehr froh werden, wenn dir ständig ein paar hundert Leute am Rockzipfel hängen.«
Damit hatte sie wahrscheinlich nicht ganz unrecht. Also spielte ich meine Rolle als Casting-Agentin und Leiterin einer Schauspielagentur, bereit, das Gespräch über die jeweiligen Familienangehörigen zur Not auch kunstvoll in einen Hamlet-Monolog einzuflechten.
Aber eine Frage musste ich Helena trotzdem noch stellen: »Glaubst du, dass ich die Menschen hier herausführen und nach Hause bringen kann?«
Mir war nämlich durch den Kopf gegangen, ob ich vielleicht genau aus diesem Grund hier war, denn ich war ja auch fest überzeugt, dass ich nicht bleiben würde. Der typische Opferglaube:
Mir kann das nicht passieren – allen anderen schon, aber mir nicht.
Helena lächelte traurig, und wieder einmal brauchte ich ihre Antwort nicht zu hören, weil ihr Gesicht schon alles sagte. »Tut mir leid, aber nein, das glaube ich nicht.« Doch ehe ich ganz aus der Fassung geriet, fügte sie hinzu: »Trotzdem glaube ich, dass du aus einem bestimmten Grund hier bist, und dass dieser Grund momentan der ist, dass du deine Informationen mit allen teilen und ihnen von ihren Familien erzählen sollst. Wie sehr sie alle vermisst werden. Das ist deine Art, sie nach Hause zu führen.«
So schaute ich jetzt zu Orla empor, die gespannt vor mir saß und wartete. Zeit, sie nach Hause zu führen.
Sie war jetzt sechsundzwanzig und hatte sich in den sechs Jahren, seit sie verschwunden war, kaum verändert. Die ganzen sechs Jahre hatte ich sie gesucht. Ich wusste, dass ihre Eltern Clara und Jim hießen und sich vor zwei Jahren hatten scheiden lassen. Ich wusste, dass sie zwei Schwestern hatte – Ruth und Lorna – und einen Bruder namens James. Ihre besten Freundinnen waren Laura und Rebecca, die den Spitznamen »Knöpfchen« hatte, weil sie immer vergaß, den Knopf an ihrer Hose zuzumachen. Orla hatte Kunstgeschichte an der Universität in Cork studiert, als sie verschwand; ihr Ballkleid beim
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