Vermiss mein nicht
mir der Groschen, und ich verstand, warum er so reagierte. Ich nickte langsam.
»Und was tut sie in dem Zauberland?«
»Sie hilft ihren Freunden«, antwortete ich leise.
»Das scheint mir aber ganz und gar keine alberne Geschichte zu sein«, sagte Joseph ernst. »Das würden sich die Leute bestimmt gern anschauen.«
Ich dachte darüber nach. Genau genommen dachte ich die ganze Nacht darüber nach, bis ich von roten Schuhen und Tornados und sprechenden Löwen und von Häusern träumte, die krachend auf Hexen fielen. Und irgendwann dröhnte der Satz »Es ist nirgends so schön wie zu Hause« so laut und unablässig in meinem Kopf, dass ich aufwachte, weil ich ihn vor mich hin murmelte.
Danach hatte ich Angst, wieder einzuschlafen.
Achtundzwanzig
Ich starrte an die Decke, an einen Punkt über meinem Kopf, wo die weiße Farbe auf dem Holz eine Blase gebildet hatte und abgeblättert war. Der Mond stand im Fenster des Familienraums, in dem ich schlief, wie in einem perfekten Rahmen. Blaues Licht fiel durch die Scheibe und warf eine exakte Spiegelung des Fensters auf den robusten Holztisch. Nur der Mond war darin nicht zu sehen, lediglich als gespenstischer blassblauer Widerschein.
Jetzt war ich hellwach. Wieder einmal betastete ich mein Handgelenk nach meiner Uhr, und mein Herz begann zu klopfen, wie immer, wenn ich etwas verloren hatte und nicht danach suchen konnte. Es war eine Sucht, ich brauchte das Suchen wie der Junkie seine Drogen. Ein Teil von mir war besessen und fand keine Ruhe, bis das Verlorene gefunden war. In diesem Zustand konnte man nichts mit mir anfangen – es war nahezu unmöglich, mich von meinem süchtigen Suchverhalten abzubringen. In solchen Momenten gab es für mich nichts Wichtigeres, ich ignorierte die Menschen um mich herum ebenso wie die Situation, in der ich mich befand. Wenn die Welt untergegangen wäre, hätte ich mich von der Massenpanik nicht stören lassen, und immer wieder warfen mir Bekannte vor, dass sie sich von mir im Stich gelassen fühlten. Aber warum hielten sich eigentlich alle für Opfer? Dachte denn niemand daran, dass ich mich auch einsam fühlte?
»Aber der Stift ist gar nicht das, was du vermisst«, sagte Gregory oft zu mir, wenn ich mal wieder nach meinem Kuli suchte.
»O doch«, brummte ich dann, während ich die Nase tief in meine Tasche steckte und angestrengt darin herumwühlte.
»Nein. Du jagst einem bestimmten Gefühl nach. Ob du den Stift hast oder nicht, ist vollkommen unbedeutend, Sandy.«
»Nein, das ist überhaupt nicht unbedeutend«, schrie ich ihn an. »Wenn ich meinen Kuli nicht habe, wie soll ich dann aufschreiben, was du mir Kluges sagen willst?«
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und reichte mir seinen Stift. »Hier, bitte.«
»Aber das ist nicht
meiner
!«
Dann seufzte er und lächelte auf seine typische Art. »Das Suchen nach verlorenen Dingen ist eine
Ablenkung
…«
»Ablenkung, Ablenkung. Vergiss mich mal einen Moment, du bist nämlich von diesem Wort besessen. Ablenkung. Wenn du das sagst, lenkst du dich davon ab, etwas anderes zu sagen«, stammelte ich wütend.
»Lass mich ausreden«, sagte er streng.
Sofort hörte ich auf zu wühlen und hörte ihm mit demonstrativ geheucheltem Interesse zu.
»Das Suchen nach verlorenen Dingen ist eine Able …« Er unterbrach sich. »Du vermeidest die Auseinandersetzung damit, dass etwas anderes in deinem Leben verloren gegangen ist, etwas
in dir
. Also, sollen wir uns auf die Suche danach machen, was das sein könnte?«
»Aha!«, rief ich und zog meinen Stift mit einem triumphierenden Grinsen aus den Abgründen meiner Tasche. »Hab ihn!«
Zu Gregorys Pech verfiel ich nie in meine Suchsucht, wenn er vorschlug, in meinem Inneren nach etwas Verlorenem zu forschen.
Wenn ich auf der Suche war, hätte ich die höchsten Mauern überwunden. Es gab für mich keine unüberwindbaren Hindernisse, sondern bestenfalls Hürden, die mit entsprechendem Einsatz genommen werden mussten. In einer Hinsicht entdeckte Gregory sogar etwas Gutes an meiner Sucht. Er sagte nämlich, er habe noch nie einen Menschen erlebt, der so viel Ausdauer und Entschlossenheit an den Tag legte wie ich, wenn ich suchte. Aber dann nahm er das schöne Kompliment auch schon wieder halb zurück, indem er meinte, es sei wirklich schade, dass ich diese Energie nicht für andere Bereiche meines Lebens nutzte. Aber wenigstens war irgendwo in seiner Bemerkung so etwas wie ein Lob enthalten.
Die Wanduhr im Familienraum zeigte
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