Vermiss mein nicht
standen in kleinen Blechbehältern Paradiesvogelblumen. Gerade waren wir mit der Vorspeise – Pilzsuppe mit ofenwarmem braunen Brot – fertig, ich lehnte mich zurück und wartete gespannt auf den Hauptgang, obwohl ich schon beinahe satt war. An diesem Mittwochabend war das Speisehaus ziemlich leer, denn die Menschen gingen früh ins Bett, weil sie morgens zeitig aus den Federn mussten. Alle, die an der Theaterproduktion beteiligt waren, hatten Urlaub bekommen – ihr Engagement für die Kunst erschien dem Gemeinderat dafür Grund genug. Wir sollten jeden Tag von morgens bis abends proben, um in einer Woche alles unter Dach und Fach zu haben, denn diesen Termin hatte Helena sowohl der Truppe als auch der Gemeinde fest versprochen. In meinen Augen war das viel zu ehrgeizig und vollkommen unrealistisch, aber Helena versicherte mir, dass sich die Menschen hier mit enormem Enthusiasmus in die Arbeit stürzten und daher unglaublich produktiv waren. Was konnte ich dagegen einwenden? Ich wusste ja nichts von ihnen.
Zum millionsten Male sah ich auf mein Handgelenk, nur um erneut festzustellen, dass meine Uhr weg war.
»Ich muss endlich meine Uhr wiederfinden.«
»Keine Sorge«, lächelte Helena. »Es ist hier nicht so wie zu Hause, Sandy, es geht nichts dauerhaft verloren.«
»Ich weiß, ich weiß, das sagst du ja dauernd. Aber wo ist die Uhr denn dann?«
»Da, wo du sie hast fallen lassen«, lachte sie und schüttelte den Kopf über mich wie über ein dummes Kind.
Mir fiel auf, dass Joseph nicht lachte, sondern gezielt das Thema wechselte.
»Hast du dir schon Gedanken über das Stück gemacht?«, fragte er mit seiner angenehmen, tiefen Stimme.
»Ach, woher denn! Jedes Mal, wenn jemand danach gefragt hat, hat Helena das Gespräch geschickt auf andere Dinge gelenkt. Ich will euch ja nicht die Stimmung verderben, aber ich glaube, eine Woche ist viel zu knapp.«
»Es ist doch nur ein kurzes Stück«, meinte Helena etwas defensiv.
»Aber was ist mit Texten und Kostümen und dem anderen Zeug?«, fragte ich. Mir fiel immer mehr ein, was noch zu tun war.
»Sie hat bestimmt längst an alles gedacht«, beruhigte mich Joseph und lächelte seine Frau voller Zuneigung an.
»Ja, es ist schon beschlossene Sache, Schatz. Wir bringen den
Zauberer von Oz
auf die Bühne«, verkündete Helena großspurig, schwenkte ihr Rotweinglas und trank einen Schluck.
Ich fing an zu lachen.
»Warum ist das so komisch?«, erkundigte sich Joseph.
»Der Zauberer von Oz! Das ist ein Musical, kein Theaterstück! So was machen Kinder bei der Schulaufführung.«
»Ich kenne den Zauberer von Oz nicht.«
Ich sperrte die Augen auf. »Du armes vernachlässigtes Kind.«
»In Watamu hat man das sicher nicht dauernd zu sehen bekommen«, erinnerte mich Helena. »Und wenn du nicht so schnell von der Probe weggelaufen wärst, Sandy, dann wüsstest du auch, dass wir nicht die Musicalfassung aufführen, sondern dass Dennis, ein toller irischer Stückeschreiber, der seit zwei Jahren hier ist, es als Theaterstück bearbeitet hat. Als er gehört hat, was wir vorhaben, hat er mir gleich heute Morgen das Manuskript vorbeigebracht. Ich fand die Idee perfekt, deshalb haben wir auch schon die Rollen verteilt und die ersten Szenen entworfen. Ich hab den anderen übrigens gesagt, dass du das so beschlossen hast.«
»Du willst tatsächlich den Zauberer von Oz aufführen?«
»Worum geht es denn da?«, fragte Joseph interessiert.
»Sandy, erzähl du es ihm«, sagte Helena.
»Okay, eigentlich ist es ein Film für
Kinder
«, begann ich mit ironischem Blick zu Helena. »Er wurde in den dreißiger Jahren gedreht und handelt von einem kleinen Mädchen namens Dorothy Gale. Sie wird von einem Tornado in ein Zauberland geweht, und dort begibt sie sich auf die Suche nach dem Zauberer, der ihr helfen kann, wieder nach Hause zu kommen. Aber es ist albern, das von Erwachsenen darstellen zu lassen«, schloss ich lachend, bis ich merkte, dass niemand mitlachte.
»Und hilft ihr dieser Zauberer denn auch?«
»Ja«, antwortete ich zögernd. Seltsam, dass die anderen dieses Märchen so ernst nahmen. »Der Zauberer hilft ihr, und sie erkennt, dass sie die ganze Zeit über die innere Kraft gehabt hätte heimzukehren – sie hätte nur die Hacken ihrer roten Schuhe zusammenschlagen und die magischen Worte sagen müssen: ›Es ist nirgends so schön wie zu Hause.‹«
Joseph lachte immer noch nicht. »Dann ist sie am Ende also wieder zu Hause?«
Schweigen.
Dann endlich fiel bei
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