Veronica beschließt zu sterben
verboten«
Mari trat auf sie zu und half ihr in den Pullover.
»Schau mir in die Augen und merke dir gut, was ich dir
jetzt sagen werde. Es gibt nur zwei verbotene Dinge, das
eine, weil es das Gesetz des Menschen verbietet, das andere,
weil Gottes Gesetz es verbietet: Das eine ist, jemanden zu
einer sexuellen Beziehung zu zwingen - das ist Vergewaltigung. Das andere ist Sex mit Kindern - das ist die größte
aller Sünden. Alles andere ist erlaubt. Du bist frei. Es gibt
immer jemanden, der genau das möchte, was du auch möchtest.«
Mari hatte keine Lust, jemandem wichtige Dinge beizubringen, der bald sterben würde. Sie lächelte, sagte gute
Nacht und ging.
Eduard bewegte sich nicht, wartete auf seine Musik. Ve-
ronika mußte ihn für die ungeheure Lust entschädigen, die
er ihr nur dadurch gegeben hatte, daß er vor ihr stehengeblieben war und ihrem Wahnsinn ohne Angst oder Abscheu
zugesehen hatte. Sie setzte sich ans Klavier und fing wieder
an zu spielen.
Ihre Seele war leicht, und selbst die Angst vor dem Tod
quälte sie nicht mehr. Sie hatte Wünsche ausgelebt, die sie
immer verdrängt hatte. Sie hatte die Lust einer Jungfrau und
einer Prostituierten, einer Sklavin und einer Königin erfahren
— mehr die einer Sklavin als die einer Königin.
In jener Nacht fielen ihr wie durch ein Wunder alle
Stücke wieder ein, die sie kannte, und sie machte Eduard
damit fast so glücklich wie sich selbst.
Als er im Warteraum das Licht einschaltete, stand zu Dr.
Igors Überraschung die junge Frau vor ihm.
»Es ist noch zu früh. Und außerdem bin ich heute ausgebucht.«
»Ich weiß, daß es zu früh ist«, sagte sie. »Und der Tag hat
noch nicht einmal angefangen. Ich muß Ihnen etwas sagen.
Ich brauche Hilfe.«
Sie hatte Ringe unter den Augen, und ihr Haar war
stumpf und glanzlos, ein untrügliches Zeichen für eine
durchwachte Nacht.
Dr. Igor beschloß, sie hereinzubitten.
Er bat sie, sich zu setzen, machte auch im Sprechzimmer
Licht und zog die Vorhänge auf. In weniger als einer Stunde
wurde es hell, und dann konnte er Strom sparen. Die Aktionäre
sparten an allem und jedem.
Er warf einen kurzen Blick auf seinen Terminkalender:
Zedka hatte schon ihren letzten Insulinschock bekommen
und gut darauf reagiert, oder besser gesagt, hatte es geschafft, die unmenschliche Behandlung zu überleben. Wie
gut, daß Dr. Igor vom Aufsichtsrat des Krankenhauses verlangt hatte, daß sie eine Erklärung unterzeichneten, durch
die sie die Verantwortung für mögliche Folgen übernahmen.
Er sah die Berichte durch. Zwei oder drei Patienten hatten
sich in der Nacht aggressiv verhalten, berichteten die
Krankenpfleger. Darunter auch Eduard, der um vier Uhr
morgens in seine Station zurückgekehrt war und sich geweigert hatte, die Schlaftabletten zu schlucken. Dr. Igor
mußte etwas unternehmen. Denn so liberal Villete drinnen
war, so mußte doch nach außen der Schein einer konservativen, strengen Institution gewahrt werden.
»Ich muß Sie um etwas Wichtiges bitten«, sagte die junge
Frau.
Doch Dr. Igor beachtete sie nicht. Er nahm ein Stethoskop, begann ihre Lunge und ihr Herz abzuhören. Prüfte
ihre Reflexe und untersuchte den Augengrund mit einer
Taschenlampe. Er sah, daß sie kaum noch Zeichen einer
Vitriolvergiftung oder Vergiftung durch Bitterkeit aufwies,
wie alle es lieber nannten.
Dann ging er zum Telefon und bat die Krankenschwester,
ein Medikament mit kompliziertem Namen zu bringen.
»Mir scheint, Sie haben gestern abend Ihre Spritze nicht
erhalten.«
»Aber ich fühle mich doch besser.«
»Man braucht Sie nur anzusehen: Augenringe, Müdigkeit, Fehlen unmittelbarer Reflexe. Wenn Sie die Zeit nutzen
wollen, die Ihnen noch verbleibt, tun Sie bitte, was ich Ihnen
sage.«
»Genau deswegen bin ich hier. Ich möchte das bißchen
Zeit, was mir noch bleibt, nutzen, aber auf meine Art. Wieviel
Zeit bleibt mir noch?«
Dr. Igor blickte sie über den Brillenrand an.
»Antworten Sie mir, bitte«, forderte Veronika. »Ich habe
jetzt keine Angst mehr, bin nicht mehr gleichgültig. Ich
möchte leben, doch ich weiß, daß Wünschen nichts bewirken
wird, und ergebe mich in mein Schicksal.«
»Und was wollen Sie dann?«
Die Krankenschwester kam mit der Spritze herein. Dr.
Igor machte ein Zeichen mit dem Kopf. Vorsichtig schob sie
den Ärmel von Veronikas Pullover hoch.
»Wieviel Zeit habe ich noch?« wiederholte Veronika,
während ihr die Krankenschwester die Spritze gab.
»Vierundzwanzig Stunden. Vielleicht
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