Veronica beschließt zu sterben
tun«, antwortete er. »Und
unsere Partner auch. Was ist daran verkehrt?«
»Antworten Sie doch auf meine Frage!«
»Alles ist verkehrt. Weil, wenn alle träumen und nur einige ihre Träume umsetzen, alle Welt sich feige fühlt.«
»Auch wenn diese wenigen recht haben?«
»Wer recht hat, ist der Stärkere. In diesem Fall sind paradoxerweise die Feigen mutiger, und es gelingt ihnen, ihre
Ideen durchzusetzen.«
Dr. Igor wollte das nicht weiter ausführen.
»Ruhen Sie sich bitte ein wenig aus. Ich habe noch andere
Patienten, um die ich mich kümmern muß. Wenn Sie mitziehen, werde ich sehen, was ich in bezug auf ihre zweite
Bitte tun kann.«
Die junge Frau ging hinaus. Seine nächste Patientin war
Zedka, die entlassen werden sollte. Doch Dr. Igor bat sie,
sich einen Augenblick zu gedulden. Er mußte sich ein paar
Notizen über das Gespräch machen, das er gerade geführt
hatte.
Er mußte in seiner wissenschaftlichen Abhandlung über
das Vitriol ein ausführliches Kapitel über Sex einbauen, der
für einen Großteil der Neurosen und Psychosen verantwortlich war: Ihm zufolge waren sexuelle Phantasien elektrische Impulse im Gehirn, die, wenn sie nicht umgesetzt
wurden, ihre Energie in anderen Bereichen entluden.
Während seines Medizinstudiums hatte Dr. Igor ein interessantes Buch über sexuelle Minderheiten gelesen: Sadismus, Masochismus, Homosexualität, Kropophagie, Voyeurismus, den Drang, unanständige Wörter zu sagen. Anfangs
fand er, daß dies nur die abweichende Haltung einiger
gestörter Menschen sei, die nicht in der Lage waren, eine
gesunde Beziehung zum Partner zu haben.
Inzwischen hatte er mit seiner Berufserfahrung als Psychiater und durch die Befragungen seiner Patienten bemerkt, daß alle eine besondere Geschichte zu erzählen hatten.
Alle setzten sich in den bequemen Sessel in seinem Büro,
blickten zu Boden und hielten lange Vorträge über das, was
sie »Krankheiten« nannten (als wäre nicht er der Arzt) oder
»Perversionen« (als wäre es an ihnen und nicht an ihm als
Psychiater, darüber zu urteilen, was pervers war und was
nicht).
Und diese »normalen« Leute beschrieben einer nach dem
ändern die Phantasien, die im berühmten Buch über sexuelle Minderheiten standen, einem Buch, das im übrigen
das Recht eines jeden vertrat, den Orgasmus zu haben, den
er oder sie sich wünschte, allerdings nur unter der Bedingung, daß er oder sie dabei die Rechte ihres Partners nicht
verletzten.
Frauen, die in Nonnenschulen erzogen worden waren,
träumten davon, erniedrigt zu werden: Männer, in Anzug
und Krawatte, hohe öffentliche Beamte erzählten, daß sie
ein Vermögen für rumänische Prostituierte ausgaben, nur
damit sie denen die Füße lecken konnten. Junge Männer
verliebten sich in junge Männer, Mädchen verliebten sich in
ihre Klassenkameradinnen. Ehemänner wollten zuschauen,
wenn ihre Frauen von anderen besessen wurden, Frauen ma-
sturbierten beim kleinsten Hinweis auf einen Seitensprung
ihrer Männer, brave Mütter mußten an sich halten, um sich
nicht dem erstbesten Lieferanten hinzugeben, Familienväter
erzählten von geheimen Abenteuern mit den wenigen
Transvestiten, denen es gelang, durch die strenge Kontrolle
an der Grenze zu kommen.
Und Orgien. Es schien so, als hätten alle den Wunsch,
mindestens einmal im Leben an einer Orgie teilzunehmen.
Dr. Igor legte den Kugelschreiber einen Moment lang ab
und dachte über sich selber nach: er auch? Ja, er würde es
auch gern tun. Die Orgie, die er sich vorstellte, wäre
vollkommen anarchisch, fröhlich, es würde keine Besitzansprüche mehr geben - nur Lust und Chaos.
War dies einer der Hauptgründe dafür, daß so viele Menschen von der Bitterkeit vergiftet wurden? Ehen, die wie
von einer erzwungenen Monogamie eingeengt waren und
aus denen (wie Untersuchungen belegten, die Dr. Igor sorgfältig in seiner medizinischen Bibliothek verwahrte) der
Wunsch nach Sexualität im dritten oder vierten Ehejahr
verschwand. Dann fühlte die Frau sich abgelehnt, der Mann
als ein Sklave der Ehe - und das Vitriol, die Bitterkeit begann alles zu zerstören.
Die Menschen äußerten sich einem Psychiater gegenüber
offener als gegenüber einem Priester, weil der Arzt nicht mit
der Hölle drohen konnte. Während seines langen Berufslebens als Psychiater hatten die Patienten Dr. Igor praktisch
alles erzählt, was man sich nur vorstellen konnte.
Erzählt. Selten getan. Sogar nach einigen Jahren Berufserfahrung fragte er sich
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