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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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noch, warum alle so große Angst
davor hatten, sich anders als gewohnt zu verhalten.
Wenn er es von ihnen wissen wollte, war die Antwort, die
er am häufigsten hörte: »Mein Mann wird mich für eine
Hure halten.« Wenn ein Mann vor ihm saß, sagte der:
»Meine Frau verdient Achtung.«
Und da endete zumeist die Unterhaltung. Es führte zu
nichts, zu sagen, daß jeder Mensch sein eigenes sexuelles
Profil hatte, das genauso einzigartig war wie seine Fingerabdrücke. Das wollte niemand glauben. Es war riskant, im
Bett frei zu sein, weil der andere womöglich immer noch
Sklave seiner Vorurteile war.
>Ich werde die Welt nicht ändern können<, dachte er resigniert und bat die Krankenschwester, die ehemalige Depressive, Zedka, eintreten zu lassen. >Aber in meinem Buch
werde ich wenigstens sagen können, was ich denke.<
    Eduard sah Veronika aus Dr. Igors Sprechzimmer kommen,
und er machte sich auf den Weg zur Krankenstation. Er
hätte ihr gern seine Geheimnisse anvertraut, ihr mit der
gleichen Ehrlichkeit und Freiheit die Seele geöffnet wie sie
in der Nacht zuvor ihren Körper.
    Es war dies eine seiner schwersten Prüfungen gewesen,
seit er als Schizophrener in Villete eingeliefert worden war.
Doch er hatte widerstanden und war zufrieden - auch wenn
er sich immer quälender bewußt wurde, daß er eigentlich in
die Welt zurückkehren wollte.
    >Alle wissen, daß diese junge Frau nicht mehr bis zum
Ende dieser Woche durchhält. Es bringt nichts.<
Oder vielleicht war es gerade deswegen gut, die eigene
Geschichte mit ihr zu teilen. Seit drei Jahren sprach er nur
mit Mari, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn ganz ver-
stand. Als Mutter dachte sie vielleicht, daß seine Eltern
recht hatten, daß sie nur sein Bestes wollten, daß die Visionen
des Paradieses nur der alberne Traum eines Jugendlichen
waren und ganz außerhalb der realen Welt lagen.
Visionen vom Paradies. Genau das hatte ihn in die Hölle,
zu den endlosen Streitigkeiten mit seiner Familie, zu diesem
Schuldgefühl geführt, das so stark war, daß es ihn lahmte
und zwang, sich in eine andere Welt zu flüchten. Hätte es
Mari nicht gegeben, würde er noch immer in dieser anderen
Realität leben.
Doch Mari war gekommen, hatte sich um ihn gekümmert, ihm wieder das Gefühl gegeben, geliebt zu werden.
Dank Mari war er noch fähig, an seiner Umwelt teilzuhaben.
Vor einigen Tagen war eine junge Frau in seinem Alter
gekommen und hatte sich ans Klavier gesetzt, um die
>Mondscheinsonate< zu spielen. Eduard wußte nicht, ob es an
der Musik oder an dem Mädchen oder am Mond oder an der
Zeit gelegen hatte, die er schon in Villete war, aber die
Visionen vom Paradies begannen ihn wieder heimzusuchen.
Er folgte ihr bis zur Frauenstation, wo sich ihm ein Krankenpfleger in den Weg stellte.
»Hier kannst du nicht rein, Eduard. Geh wieder in den
Garten. Es wird hell, und der Tag wird schön.«
Veronika blickte sich um.
»Ich werde ein bißchen schlafen«, sagte sie zu ihm. »Wir
reden nachher miteinander.«
Veronika wußte nicht, weshalb, aber dieser Junge gehörte
jetzt zu ihrer Welt - oder zumindest zu dem Wenigen, das
noch von dieser Welt übrig war. Sie war sich sicher, daß
Eduard fähig war, ihre Musik zu verstehen, ihr Talent zu
würdigen. Auch wenn er kein Wort herausbrachte, seine
Augen sagten alles.
Wie in diesem Augenblick an der Tür zur Station, als sie
Dinge sagten, von denen sie nichts wissen wollte.
Zärtlichkeit. Liebe.
>Dieses Zusammenleben mit den Geisteskranken hat
mich schnell verrückt werden lassen. Schizophrene empfinden
so etwas nicht - jedenfalls nicht für Wesen von dieser Welt.<
Veronika war drauf und dran, auf ihn zuzugehen und ihm
einen Kuß zu geben, doch sie hielt sich zurück. Der Krankenpfleger könnte es sehen und Dr. Igor erzählen, und der
Arzt würde einer Frau, die Schizophrene küßte, bestimmt
nicht erlauben, Villete zu verlassen.
    Eduard starrte den Krankenpfleger an. Er fühlte sich stärker
zu der jungen Frau hingezogen, als er geglaubt hatte, doch er
mußte sich jetzt in der Gewalt haben. Er würde mit Mari
beratschlagen, dem einzigen Menschen, mit dem er seine
Geheimnisse teilte. Sie würde ihm bestimmt sagen, daß das,
was er wollte - Liebe -, in so einem Fall gefährlich und
nutzlos sei. Mari würde Eduard bitten, den Unsinn zu lassen
und wieder ein normaler Schizophrener zu sein (dann würde
sie lachen, denn dieser Satz machte keinen Sinn).
    Er gesellte sich zu den ändern im Speisesaal, aß, was

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