Veronica beschließt zu sterben
deren erster Versuch zu sterben fehlgeschlagen ist, früher
oder später einen weiteren Versuch unternehmen, wußte er.
Warum sollte er sie da nicht als Versuchskaninchen benutzen
und ausprobieren, ob sich das Vitriol - oder die Bitterkeit aus ihrem Körper eliminieren ließ?
Und Dr. Igor machte einen Plan.
Indem er Veronika ein Medikament namens Fenotal gab,
konnte er die Symptome eines Herzanfalls simulieren. Eine
Woche lang wurde ihr dieses Medikament gespritzt, und sie
mußte einen großen Schreck bekommen haben, weil sie Zeit
hatte, über den Tod nachzudenken und ihr Leben noch einmal
an sich vorbeiziehen zu lassen. Dieser Schreck hatte dazu
geführt, daß die junge Frau - entsprechend der These von Dr.
Igor - das Vitriol vollständig aus ihrem Körper ausschied und
vermutlich keinen zweiten Selbstmordversuch unternehmen
würde. (Das letzte Kapitel von Dr. Igors Buch würde den Titel
tragen: >Das Bewußtsein des Todes läßt uns das Leben
intensiver leben<.)
Heute wollte er eigentlich mit ihr sprechen, um ihr zu
sagen, daß es ihm dank der Spritzen gelungen sei, die Herzattacken auszuschalten. Veronikas Flucht ersparte ihm weitere
unangenehme Lügen.
Womit Dr. Igor nicht gerechnet hatte, war die ansteckende
Wirkung der Heilung einer Vitriolvergiftung. Viele Patienten
in Villete hatte das Bewußtsein eines langsamen unaufhaltsamen Todes erschreckt. Alle mußten an das denken,
was ihnen entging, und waren gezwungen, ihr eigenes Leben
zu überdenken.
Mari hatte um ihre Entlassung gebeten. Andere Kranke
baten um die Neubewertung ihrer Fälle. Die Lage des Botschafterssohnes bereitete ihm die meisten Sorgen, weil er
einfach verschwunden war und ganz gewiß Veronika bei
ihrer Flucht geholfen hatte.
>Vielleicht sind sie ja zusammen<, dachte er.
Auf jeden Fall kannte der Botschafterssohn ja die Adresse
von Villete, für den Fall, daß er wieder zurückkommen
wollte. Dr. Igor war zu begeistert von den Ergebnissen, als
daß er sich um solche Nichtigkeiten kümmerte.
Doch ein anderer Zweifel befiel ihn plötzlich: Früher oder
später würde Veronika merken, daß sie nicht an ihrem Herzen
sterben würde. Sie würde bestimmt einen Spezialisten
aufsuchen, und der würde ihr sagen, daß sie vollkommen
gesund sei. Dann würde sie den Arzt, der sie in Villete behandelt hatte, für einen Versager halten. Doch alle Menschen, die es wagen, Verbotenes zu erforschen, brauchen
eine gewisse Portion Mut und müssen ertragen, nicht verstanden zu werden.
Doch was würde während der vielen Tage geschehen, die
sie mit dem Tod vor Augen leben müßte?
Dr. Igor machte sich lange Gedanken über das Für und
das Wider und kam dann zum Schluß: Es war nicht weiter
schlimm. Sie würde jeden Tag wie ein Wunder empfinden was er ja letztlich auch war, wenn man alle Unwägbarkeiten
unseres zerbrechlichen Lebens mit in Betracht zieht.
Er bemerkte, daß die Sonnenstrahlen stärker wurden: Das
bedeutete Frühstückszeit für die Patienten. Bald würden sie
sein Wartezimmer füllen und ihm die gewohnten Probleme
vortragen. Da war es höchste Zeit, mit den Aufzeichnungen
für sein Buch zu beginnen.
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Peinlich genau schrieb er den Fall Veronika nieder. Den
Bericht über die Sicherheitsmängel hob er sich für später
auf.
Tag der heiligen Bernadette, 18. Februar 1998
PAULO COELHO , geboren 1947 in Rio de Janeiro, begann nach
ausgedehnten Reisen zu schreiben Mit seinem Weltbestseller Der
Alchimist wurde er »neben Gabriel Garcia Marquez der
meistgelesene lateinamerikanische Schriftsteller der Welt« The
Economist, London
Veronika beschließt zu sterben erzählt die Geschichte einer
unglücklichen jungen Frau, die sterben will und erst angesichts
des Todes entdeckt, wie schön das Leben sein kann, wenn man
darum kämpft und etwas riskiert. Ein wunderbares Buch über die
Prise >Verrücktheit<, die es braucht, um den eigenen Lebenstraum
Wirklichkeit werden zu lassen, und eine große Liebeserklärung
an das Glück in jedem von uns.
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