Veronica beschließt zu sterben
-eitern einzuweisen. Andere wiederum ließen sich für beschränkte Zeit
selbst in die Anstalt einweisen, um Gläubigern zu entgehen
oder bei schweren Straftaten Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit zu erwecken, und kamen so ungeschoren davon.
Villete, der Ort, von wo noch nie jemand ausgebrochen war.
Wo die wirklich Verrückten - die vom Richter oder von anderen Spitälern eingewiesen worden waren - mit den anderen,
deren Geisteskrankheit nicht nachgewiesen oder nur
vorgetäuscht war, zusammenlebten. Das Ergebnis war ein
wahres Durcheinander, und die Presse publizierte ständig
Geschichten über Mißhandlungen und Mißbrauch, obwohl
keiner je vor Ort hatte ermitteln dürfen. Die Regierung ging
zwar den Klagen nach, konnte jedoch nichts beweisen; die
Aktionäre konterten mit der Drohung, überall herumzuerzählen, welche Schwierigkeiten ausländische Investoren
in Slowenien zu gewärtigen hatten. Und so bestand Villete
fort und brachte es sogar zu einiger Blüte.
»Meine Tante hat vor ein paar Monaten Selbstmord begangen«, fuhr die Frauenstimme fort. »Acht Jahre lang hatte
sie sich nicht aus ihrem Zimmer getraut, hat nur gegessen,
zugenommen, geraucht, Beruhigungsmittel genommen und
fast die ganze Zeit geschlafen. Sie hatte zwei Töchter und
einen Mann, der sie liebte.« Veronika versuchte ihren Kopf
in die Richtung der Stimme zu wenden, was ihr aber nicht
gelang.
»Nur einmal hat sie reagiert. Das war, als ihr Mann sich
eine Geliebte anschaffte. Da hat sie einen Aufstand gemacht,
ein paar Kilos abgenommen, Gläser zerschmissen und wochenlang den Nachbarn mit ihrem Geschrei den Schlaf geraubt. Doch so absurd es auch klingen mag, ich glaube, das
war ihre glücklichste Zeit. Sie fühlte sich lebendig und
stellte sich den Herausforderungen.«
>Was hat das mit mir zu tun?<, fragte sich Veronika. >Ich
bin nicht ihre Tante, und ich habe keinen Mann.<
»Am Ende hat der Mann seine Geliebte verlassen«, fuhr
die Frau fort, »und meine Tante kehrte allmählich zu ihrer
gewohnten Passivität zurück. Eines Tages rief sie mich an
und sagte mir, daß sie ihr Leben geändert und mit dem
Rauchen aufgehört habe. In derselben Woche, nachdem sie
die Dosis Beruhigungsmittel erhöht hatte, weil sie nicht
mehr rauchte, gab sie allen bekannt, daß sie sich umbringen
wollte.
Niemand glaubte ihr. Eines Morgens hinterließ sie mir
eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, in der sie sich
von mir verabschiedete, und brachte sich mit Gas um. Ich
hörte mir diese Nachricht mehrfach an. Nie zuvor hatte ihre
Stimme so ruhig, so eins mit ihrem Schicksal und gelassen
geklungen. Sie sagte, sie sei weder glücklich noch unglücklich
und hielte es daher nicht weiter aus.«
Veronika tat die Frau leid, die diese Geschichte erzählte
und den Tod ihrer Tante zu begreifen versuchte. Wie sollte
man in einer Welt, in der man um jeden Preis versucht zu
überleben, Menschen beurteilen, die zu sterben beschließen?
Keinem kommt ein Urteil zu. Jeder kennt nur das Ausmaß
des eigenen Leidens oder die Sinnlosigkeit des eigenen
Lebens, wollte Veronika sagen, doch wegen des Schlauchs
in ihrem Mund brachte sie nur ein Würgen heraus. Die Frau
kam ihr zu Hilfe.
Die Frau beugte sich über die Fesseln, Schläuche und Sonden, die Veronika gegen ihren Willen vor Selbstzerstörung
schützen sollten. Veronika warf den Kopf hin und her, flehte
mit den Blicken, ihr die Schläuche herauszunehmen, sie in
Frieden sterben zu lassen.
»Sie sind erregt«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, ob Sie es
bereuen oder ob Sie immer noch sterben wollen, doch das
interessiert mich nicht. Ich mache hier nur meine Arbeit.
Wenn ein Patient erregt ist, muß ich ihm ein Beruhigungsmittel geben.«
Veronika hörte auf, sich zu wehren, doch die Krankenschwester gab ihr schon eine Spritze in den Arm. Kurz darauf
befand sie sich wieder in einer fremden traumlosen Welt, in
der das einzige, an das sie sich erinnern konnte, das Gesicht
der Frau war, die sie gerade gesehen hatte: grüne Augen,
braunes Haar und die unbeteiligte Miene eines Menschen,
der Dienst nach Vorschrift tut, ohne seine Handlungen zu
hinterfragen.
Paulo Coelho erfuhr die Geschichte von Veronika drei
Monate später, als er in einem algerischen Restaurant in
Paris mit einer slowenischen Freundin zu Abend aß, die
ebenfalls Veronika hieß und Tochter des Chefarztes von
Villete war.
Später, als er sich entschloß, ein Buch darüber zu schreiben, dachte er daran, den Namen Veronikas, seiner
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