Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
Vom Netzwerk:
ging der junge Mann bereits zu
weit. Verwirrt setzte er seinen Weg fort, vergaß dieses Gesicht am Fenster für immer.
    Doch Veronika war glücklich, weil sie noch ein Mal begehrt worden war. Sie brachte sich nicht um, weil ihr Liebe
fehlte. Nicht, weil ihre Familie ihr zu wenig Zärtlichkeit
entgegenbrachte, nicht aus finanziellen Gründen oder wegen
einer unheilbaren Krankheit.
    Veronika hatte beschlossen, an diesem schönen Nachmittag
in Ljubljana zu sterben, während bolivianische Musiker auf
dem Platz spielten, ein junger Mann unter ihrem Fenster
vorbeiging, und sie war glücklich über das, was ihre
Augen sahen und ihre Ohren hörten. Noch glücklicher war
sie, daß sie dies alles nicht noch weitere dreißig, vierzig oder
fünfzig Jahre sehen mußte, denn es würde sich abnutzen
und zur Tragödie eines Lebens werden, in dem alles sich
wiederholt und ein Tag dem anderen gleicht.
    Ihr Magen begann nun zu rumoren, und sie fühlte sich
elend. >Merkwürdig, ich dachte immer, eine Überdosis Beruhigungsmittel würde mich sofort einschlafen lassen.<
Doch statt dessen fühlte sie Ohrensausen und Brechreiz.
>Wenn ich mich übergebe, sterbe ich nicht.< Sie beschloß, die
Krämpfe zu ignorieren, und konzentrierte sich lieber auf die
schnell hereinbrechende Dunkelheit, auf die Bolivianer, auf
die Ladenbesitzer, die einer nach dem ändern ihre Geschäfte
schlössen und nach Hause gingen. Das Brausen in ihren
Ohren wurde immer schriller, und zum ersten Mal, seit sie die
Tabletten genommen hatte, verspürte Veronika Angst,
schreckliche Angst vor dem Unbekannten.
    Doch es dauerte nicht lange, und sie verlor das Bewußtsein.
Als sie die Augen öffnete, dachte Veronika nicht >Das muß
der Himmel sein<. Im Himmel gab's keine Neonröhren, und
der Schmerz, der unmittelbar darauf einsetzte, war etwas
typisch Irdisches, ein einzigartiger, typisch irdischer
Schmerz. Sie wollte sich bewegen, aber das tat weh. Leuchtende Sterne tanzten vor ihren Augen, und Veronika begriff,
daß diese Sterne nicht zum Paradies gehörten, sondern von
ihren ungeheuren Schmerzen herrührten.
    »Sie kommt zu sich«, hörte sie eine Frauenstimme sagen.
Und dann: »Sie sind schnurstracks in die Hölle gekommen,
jetzt sehen Sie zu, wie Sie damit fertigwerden.«
    Nein, das konnte nicht wahr sein, diese Stimme log. Das
war nicht die Hölle, denn ihr war eiskalt und sie bemerkte,
daß Plastikschläuche aus ihrem Mund und ihrer Nase ragten.
Einer dieser Schläuche, der tief in ihrem Hals steckte,
würgte sie.
    Sie wollte ihn herauszuziehen, doch ihre Arme waren
festgebunden.
»Ich mache nur Spaß, das ist nicht die Hölle«, fuhr die
Stimme fort. »Es ist schlimmer als die Hölle, wo ich im
übrigen noch nie gewesen bin. Es ist Villete.«
Trotz der Schmerzen und der würgenden Sonde begriff
Veronika sofort, was geschehen war. Sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht, und jemand war rechtzeitig gekommen, um sie zu retten. Vielleicht eine Nonne, eine Freundin,
die unangemeldet vorbeigeschaut hatte, jemand, der ihr
unerwartet etwas vorbeibringen wollte. Tatsache war, sie
hatte überlebt und befand sich in Villete.
Villete, das berühmt-berüchtigte Irrenhaus, das seit 1991,
dem Jahr der slowenischen Unabhängigkeit, existierte. Damals glaubte man noch, daß die Teilung Jugoslawiens friedlich
vonstatten gehen würde (in der Tat mußte Slowenien nur elf
Tage Krieg durchmachen); damals wurde eine Gruppe
europäischer Unternehmer autorisiert, eine alte Kaserne, deren
Unterhalt zu teuer geworden war, in eine Klinik für
Geisteskranke umzuwandeln.
Doch kurz darauf brach der Krieg aus: erst in Kroatien,
dann in Bosnien. Die Geschäftsleute machten sich Sorgen:
Die Investoren waren über die ganze Welt verstreut, und
keiner wußte, wer sie waren, so daß man sie nicht zu einer
Sitzung bitten konnte, um ihnen ein paar Entschuldigungen
vorzutragen und sie um Geduld zu bitten. Sie lösten das
Problem, indem sie ein paar für eine psychiatrische Anstalt
nicht gerade empfehlenswerte Praktiken übernahmen; und in
dem jungen Land, das gerade einen liberalen Kommunismus
abgeschüttelt hatte, wurde Villete zum Symbol der
schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus: Man brauchte
nur zu zahlen, um in die Klinik aufgenommen zu werden.
Es gab genug Leute, die wegen Erbstreitigkeiten oder
peinlichen Benehmens ein Familienmitglied loswerden und
ein Vermögen für ein ärztliches Attest ausgeben wollten,
das ihnen erlaubte, ihre Problemkinder oder

Weitere Kostenlose Bücher