Veronica beschließt zu sterben
sicher würden viele Menschen sie verstehen, wenn sie sie in
einer entsprechenden Erklärung darlegte.
Der erste Grund war: Ihr Leben verlief gleichförmig, und
wenn die Jugend erst einmal vorbei war, würde es nur noch
abwärtsgehen, sie würde altern, krank werden, Freunde
verlieren. Letztlich würde Weiterleben nichts bringen, vermutlich nur mehr Leiden.
Der zweite Grund war: Veronika las die Zeitungen, sah
fern und wußte, was in der Welt geschah. Nichts war so, wie
es sein sollte, und sie konnte nichts dagegen tun. Und das
gab ihr ein Gefühl vollkommener Ohnmacht.
Demnächst würde sie jedoch die letzte Erfahrung ihres
Lebens machen, und die versprach ganz anders zu werden:
den Tod. Der Brief an die Zeitschrift war geschrieben, und
damit war für sie die Geschichte erledigt. Jetzt richtete sie
ihr Augenmerk auf wichtigere Dinge: auf ihr momentanes
Leben beziehungsweise Sterben.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es ist zu sterben, doch
es gelang ihr nicht.
So oder so brauchte sie sich darüber nicht den Kopf zu
zerbrechen, denn sie würde es in wenigen Minuten wissen.
In wieviel Minuten? Sie hatte keine Ahnung. Doch sie
genoß den Gedanken, daß sie die Anwort auf die Frage
erhalten würde, die sich alle stellten: Gibt es Gott?
Anders als für viele Menschen war dies für sie keine lebenswichtige Frage gewesen. Unter der ehemaligen kommunistischen Regierung war die offizielle Lehrmeinung gewesen, daß das Leben mit dem Tod endete, und sie hatte
sich damit abgefunden. Andererseits war die Generation
ihrer Eltern und Großeltern noch in die Kirche gegangen,
hatte gebetet und Wallfahrten unternommen und glaubte
felsenfest, daß Gott ihre Gebete hörte.
Mit ihren vierundzwanzig Jahren, und nachdem sie das
Leben in vollen Zügen genossen hatte, war sich Veronika
fast sicher, daß alles mit dem Tod aufhören würde. Daher
hatte sie den Selbstmord gewählt: endlich Freiheit. Vergessen
für immer.
Im Grunde ihres Herzens gab es dennoch Zweifel: Und
wenn es Gott nun doch gab? Die Jahrtausende machten den
Selbstmord zu einem Tabu, zu einem Affront gegen die Religion: Der Mensch kämpft, um zu überleben, und nicht, um
zugrunde zu gehen. Die Menschheit muß sich fortpflanzen.
Die Gesellschaft braucht Arbeitskräfte. Ein Paar braucht
einen Grund dafür, zusammenzubleiben, wenn die Liebe
aufgehört hat, ein Land braucht Soldaten, Politiker und
Künstler.
>Wenn es Gott gibt, was ich ehrlich gesagt nicht glaube,
wird er begreifen, daß der menschliche Verstand Grenzen
hat. Gott hat dieses Durcheinander voller Elend, Ungerechtigkeit, Geldgier und Einsamkeit geschaffen - sicher in
der besten Absicht, doch mit verheerenden Folgen. Wenn es
Gott gibt, wird er mit den Geschöpfen, die verfrüht von
dieser Erde gehen wollen, großmütig verfahren, und er sollte
uns vielmehr um Verzeihung bitten, daß er uns dieses Leben
hier zugemutet hat.
Zum Teufel mit den Tabus und dem Aberglauben!< Ihre
fromme Mutter hatte immer gesagt: Gott kennt die
Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Nun denn,
er. hatte sie in diese Welt gestellt, wohlwissend, daß sie sich
am Ende umbringen würde - da durfte ihn das auch nicht
schockieren.
Veronika begann eine leichte Übelkeit zu verspüren, die
schnell zunahm.
Wenige Minuten später konnte sie sich schon nicht mehr
auf den Platz draußen vor ihrem Fenster konzentrieren. Sie
wußte, es war Winter und etwa vier Uhr nachmittags. Die
Sonne ging schnell unter. Sie wußte, daß die anderen Men-
sehen weiterleben würden. In diesem Augenblick ging ein
junger Mann unter ihrem Fenster vorüber, blickte zu ihr
hoch und wußte nicht, daß sie kurz davor stand zu sterben.
Eine Gruppe bolivianischer Musiker (Wo liegt Bolivien?
Warum fragen Zeitungskorrespondenten nicht danach?)
spielte vor der Statue von France Preseren, dem großen slowenischen Dichter, der die Seele seines Volkes so nachhaltig
geprägt hatte.
Würde sie die Musik, die vom Platz herauftönte, bis zu
Ende hören können? Es wäre eine schöne Erinnerung an
dieses Leben: die Dämmerung, die Melodie, die Träume von
der anderen Seite der Welt erzählte, das warme, gemütliche
Zimmer, der hübsche, lebhafte junge Mann, der jetzt
stehenblieb und sie ansah. Da sie spürte, daß das Medikament wirkte, würde er der letzte Mensch sein, der sie sah.
Er lächelte. Sie lächelte zurück. Sie hatte ja nichts zu verlieren. Er winkte. Sie tat so, als würde sie woanders hinsehen. Für ihre Begriffe
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