Verräterherz (German Edition)
in Betracht zu ziehen, denn ich weiß so viel mehr als ihr.
Ich bin bereit, dir ein wenig davon zu berichten; im Austausch dafür, dass du mir einen Teil deiner kostbaren Zeit schenkst. Und schuldig bin ich noch die Erklärung, warum ich sie überhaupt beanspruche, dies ist mir nicht entgangen.
Nun, sagen wir so … ich verfolge damit eigene Ziele, die - wie es der Zufall so will - ein paar eurer Leben schützen kann. Dass ich euch töte, um selbst zu überleben, leugne ich nicht. Und doch folge ich nur meinem Instinkt, denn auch wenn mein Geist in der Lage ist, sich zu konzentrieren, um zum Beispiel diese Zeilen aufs Papier zu bringen, so liegt jegliche Selbstkontrolle brach, wenn ich hungrig bin und der Geruch eures Lebenssaftes mir köstlich in die Nase steigt. In einem solchen Moment sollten wir uns lieber nicht begegnen, geneigter Leser. Hege also besser niemals den Wunsch, mich finden zu wollen - denke nicht einmal daran, dass du mich suchen könntest. Und blättere mit Bedacht die nächste Seite um, denn ein einziger Schnitt, der durch das scharfkantige Papier nur allzu leicht erfolgen könnte, würde vielleicht dein Ende bedeuten, da ich - von dir unbemerkt - in deiner Nähe verweile, um zu beobachten, wie meine Worte auf dich wirken. Es könnte geschehen, dass wir uns auf solch unliebsame Weise treffen, denn es ist kein Zufall, dass gerade du meine Geschichte nun liest. Glaube mir jedoch, dass ich es nicht wirklich auf dein Leben abgesehen habe. Das Einzige, worum ich dich ersuche, ist, dass du bitte vorsichtig sein mögest, und Verletzungen deines Körpers besser auf einen anderen Zeitpunkt verschieben solltest.
Um den scharfkantigen Seiten des Papiers zu entgehen, wäre es ratsam, meine Aufzeichnungen in digitaler Form zu lesen – ich werde mich darum kümmern, dass dir diese Möglichkeit gegeben ist, denn ich bin dem Fortschritt nicht abgeneigt – und war es nie, wenn er meinem Nutzen diente.
Aber verzeih, ich verlor mich in Gedanken, die zwar wichtig sind, jedoch deine Aufmerksamkeit vielleicht zu sehr von dem ablenken, was ich dir eigentlich zu erzählen gedachte.
~ღ~
Vor einigen Wochen also fand ich ihn. Nicolas Morlet, den ich stets als meinen Mörder, nicht etwa als meinen Schöpfer sah, wie wohl mancher fälschlich annehmen könnte. Er führte ein Antiquitätengeschäft in einer kleinen kopfsteingepflasterten Gasse im Herzen von Paris. Ich hatte die Spur bis zu ihm durch einen Gegenstand verfolgen können, den ich einem meiner Opfer entwendet hatte – was nur rechtens war, denn er gehörte mir! Mein Mörder hatte ihn damals an sich genommen, nachdem er meine Halsschlagader durchtrennt hatte, in dem festen Glauben, das restliche Blut, das er nicht mehr zu seiner Sättigung benötigte, würde in der Matratze meines Bettes versickern. Seiner Meinung nach würde ich die Taschenuhr nie mehr benötigen, die er mir raubte. Ich hatte sie von meinen Eltern geschenkt bekommen, um nicht zu spät zur Arbeit auf dem Fischmarkt zu erscheinen. Es war meine erste Anstellung, die ich nach langer Krankheit endlich wieder annehmen konnte. Meine Mutter hatte darauf bestanden, mich zu pflegen - aufopferungsvoll, wie es nun einmal ihre Art gewesen war. Und mit Erfolg noch dazu, denn endlich hatte ich die dunklen Zeiten hinter mir gelassen, in denen ich mit hohem Fieber und schwachem Geist danieder gelegen hatte. Ich fühlte mich zu dem Zeitpunkt, da meine Krankheit überwunden war und ich meine Kräfte wiedererlangt hatte, wie neu geboren. Ich hatte alles vor mir. Mein Leben war ein Abenteuer und ich war zu einem Entdecker geworden, der mit allen Sinnen seine Umwelt neu erforschte.
Aber das alles tut nun nichts zur Sache, denn ich will von ihm berichten – meinem Mörder. Er wollte mich sterben lassen, nicht etwa zu einem seiner Art machen.
Nun, es kam anders, wie wohl inzwischen deutlich geworden sein sollte. Ein Mädchen fand mich, während ich starb, und es erzählte mir eine Geschichte. Aber da mir bewusst ist, wie verwirrend dies nun für dich sein muss, werde ich von dieser Begebenheit zu einem späteren Zeitpunkt berichten. Ich nehme an, dass es die menschliche Vorstellungskraft auf eine harte Probe stellt, weil ich mich erinnern kann, wie sehr ich selbst mit der Wahrheit zu kämpfen hatte. Ich verspreche, dass ich dennoch versuchen werde, die Geschichte begreiflich zu machen. Doch später … später, als Lohn für deine Aufmerksamkeit. Und um mich selbst nun nicht zu sehr in meiner eigenen
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