Verräterherz (German Edition)
gewisse Regeln, die ich einhalte, obwohl mir das „Handbuch für Vampire“ noch immer fehlt.
Er murmelte etwas davon, dass ich ihm gefallen würde. Seine Hand streifte mein Haar und er spielte mit den langen Strähnen, die dank meiner Unsterblichkeit niemals dünner werden, sondern mir voll und weich bis auf die Schultern reichen.
„ Willst du mal was sehen?“, fragte er mich plötzlich. Ich war nicht abgeneigt, mir etwas von ihm zeigen zu lassen.
Er zog seine Lederjacke aus und schob den Ärmel seines T-Shirts ein Stück hoch. Seine grünen Augen strahlten mich erwartungsvoll an, während ich auf das Symbol starrte, ohne wirklich die Tätowierung zu sehen.
„ Habe ich mir gestern abend erst stechen lassen. Ist noch ein bisschen blutig und tut weh, aber geil, oder?“
Er hatte recht, das Ding war noch blutig. Der Geruch seines Lebenssaftes drang wie Nebel in meinen Geist. Sein Testosteron waberte hinterher, und meine eigene Geilheit und der Hunger hebelten mein kontrolliertes Denken aus. Die Uhr an meinem Handgelenk schrie, dass es noch zu früh sei, aber zumindest schrie der Tätowierte nicht, als ich meine Zähne in dieses Symbol an seinem Oberarm bohrte. Er hielt es wohl für eine seltsame Form, mein Begehren auszudrücken, denn noch mehr seines Testosterons strömte in meinen Geist, während er wisperte: „Das wird der Wahnsinn mit dir, das spüre ich.“
Er behielt recht, es war der Wahnsinn. Der Sex war einfach unglaublich, und ich weiß, dass auch er es genoss. Leider schaffte ich es nicht, dafür zu sorgen, dass sein Lachen weiterleben würde. Wie ich bereits sagte, war mein kontrolliertes Denken lahmgelegt, und vielleicht wäre es besser gewesen, erst von ihm zu trinken, um mich in gesättigtem Zustand besser beherrschen zu können. Aber das ist paradox, denn dann hätte ich ihn ja bereits vor dem Sex getötet. So konnte ich ihm wenigstens ein paar wirklich glückliche Momente bescheren, bevor ich durch meine Instinkte gezwungen wurde, die Zähne in ihn zu bohren und ihm sein Leben zu entziehen. Ich tat es so sanft, wie es mir möglich war. Am Adrenalingehalt in seinem Blut konnte ich schmecken, dass er nicht litt. Ich weiß, das macht es nicht besser, aber ich schwöre bei meiner verlorenen Seele, dass er, durch den ausklingenden Orgasmus, als glücklicher Mann starb. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, in meiner für mich unkontrollierbaren Gier, und einen Moment lang dachte ich sogar darüber nach, was wäre, wenn ihm ebenfalls das Mädchen begegnete.
Er könnte zu mir gehören – wir könnten gemeinsam all die Dinge durchleben, denen ich seit über zweihundertfünfzig Jahren alleine ausgeliefert war. Er würde nicht allein sein müssen, sondern in mir einen Ratgeber und Vertrauten finden, wenn er mich wollte.
Aber das Mädchen erschien nicht. Zumindest zeigte es sich mir nicht, und machte ihm offenbar nicht das gleiche Angebot wie mir, denn er starb in meinen Armen … in seiner kleinen Wohnung … in seinem eigenen Bett.
Erinnerungen wurden wach. Und nachdem ich gesättigt war, überfielen mich schreckliche Gewissensbisse. Jedenfalls so schwere, wie es einem Vampir möglich ist. So etwas wie ein Trauma kennen wir nicht. Wir werden nicht verrückt vor Schuld oder Trauer. Aber ja, ich fühlte mich schlecht, nachdem ich mich von ihm genährt hatte und ihn tot dort liegen sah.
Vielleicht wäre dies nun ein guter Zeitpunkt, um klarzustellen, dass der Begriff Hunger für den Blutdurst eigentlich ein schlecht gewählter ist. Zumindest, wenn man davon ausgeht, dass ihn jemand verwendet, der eigentlich genügend Nahrung zur Verfügung hat, und der den Begriff Hunger mit Appetit auf etwas gleichsetzt. Einen solchen Hunger kann man nämlich unterdrücken, oder sollte es zumindest können. Der Hunger eines Vampirs jedoch ist etwas gänzlich anderes. Es widerstrebt mir verständlicherweise ihn mit dem Blutrausch eines Tieres zu vergleichen, aber zumindest trifft dies die Sache wesentlich besser, als der Appetit-Vergleich.
Ich hatte meinen Liebhaber also nicht getötet, weil ich noch ein wenig Hunger auf ihn hatte, sondern weil ich gar nicht anderes konnte. Und ich führte mir vor Augen, wer mich erst zu einem solchen Mörder gemacht hatte – mein eigener Mörder!
Als ich die Lederjacke vom Boden aufhob, die der Tätowierte einfach hatte fallen lassen, bemerkte ich, dass etwas aus der Innentasche hing. Eine Kette. Interessiert zog ich daran, worauf eine Taschenuhr zum Vorschein kam. Ich
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