Verräterherz (German Edition)
erkannte sie sofort, noch ehe ich den Deckel öffnete, um die Inschrift zu lesen. Sie lautete: Pour mon chéri Lucien.
Meine Mutter hatte zweifellos diese Worte zur Gravur in Auftrag gegeben und ich bin mir sicher, zusammen mit der Uhr hat sie dafür ein halbes Vermögen ausgegeben. Aber meine Eltern waren so glücklich, dass ich meine Krankheit überwunden hatte, und sie waren so stolz auf mich, dass ich die Anstellung auf dem Markt erhalten hatte, dass sie das Geld für mein Geschenk unbedingt hatten ausgeben wollen.
Der neue Job brachte einen guten Verdienst ein, und ich war bereit, dafür die entsprechenden Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Dazu gehörte natürlich das Aufstehen mitten in der Nacht. Der Umgang mit den Fischern und Händlern war rau und manchmal sogar gefährlich. Den Streitsüchtigen ging ich aus dem Weg, so gut es eben ging. Der Markt hatte ganz eigene Gesetze, die ich achtete, um nicht zwischen den Fischabfällen zu landen. Ich musste die Fische für den Verkauf ausnehmen, sie putzen und auslegen, bevor die ersten Käufer erschienen.
Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich anfangs so gut wie gar nicht mehr schlief, um ständig auf der Uhr nachzusehen, ob ich mich bereits wieder von meiner Bettstatt erheben musste. Ob ich je zu spät kam, ob ich Spaß an meiner Arbeit hatte, oder ob ich selbst Fisch aß, vermag ich nicht mehr zu sagen. Seltsam, welche Erinnerungen sich eingeprägt haben, und welche gänzlich verloren gingen, obwohl man doch meinen müsste, sie seien von Belang gewesen.
Als ich nun meine eigene Taschenuhr in den Händen hielt, die mir vor so langer Zeit von meinem Mörder entwendet worden war, glaubte ich an eine merkwürdige Ironie des Schicksals.
Wie besessen durchsuchte ich nun auch die anderen Taschen der am Boden liegenden Kleidung. Und ich wurde fündig! In der vorderen Jeanstasche fand ich einige Quittungen. Alle zerknittert und ineinander geknüllt. Zwei zeugten von einem Zigarettenkauf, eine war von einer Tankstelle. Und eine war handschriftlich ausgestellt worden. Sie belegte einen Uhrenkauf in einem Antiquitätenladen - die Adresse des Geschäftes war aufgedruckt.
Ich wollte die Spur aufnehmen, zu dem Mann, der mir vor so langer Zeit die Uhr gestohlen hatte. Ich entschied, den Antiquitätenladen so bald wie möglich aufzusuchen, um dort mehr zu erfahren.
Also wartete ich in der Wohnung meines Opfers, bis die Sonne am Himmel stand und die Geschäfte öffneten.
In der Zwischenzeit räumte ich die Küche ein wenig auf. Wir hatten sie zwar nicht benutzt, aber da das Bett das einzige war, was ich unordentlich gemacht hatte, und in diesem mein Opfer lag, sah ich davon ab, es neu zu beziehen. Stattdessen räumte ich Geschirr in die Spüle, wusch es ab und stellte es in ein Regal, das an der Wand über einem kleinen Tisch angebracht war. Dort fand ich noch drei weitere Taschenuhren und begriff, dass der junge Mann sie sammelte – gesammelt hatte. Erst in diesem Moment fiel mir wieder ein, dass auch seine Tätowierung eine Uhr darstellte. Mit meinen spitzen Zähnen hatte ich genau ein Loch jeweils in die Zwölf und Sechs dieser noch leicht blutigen Uhr gestoßen. Merkwürdig, dass mir das nicht eher aufgefallen war.
Wäre ich imstande, mich vor etwas so Unwirklichem wie dem Schicksal zu fürchten, hätte ich es wohl in diesem Moment getan, als mir klar wurde, dass die Uhren mein Leben auf mehr als nur eine Weise beherrschten. Einen Mann körperlich zu lieben und schließlich zu töten, der die gleiche Leidenschaft wie ich teilte - und zudem noch in den Besitz meiner Uhr gelangt war - war zugegebenermaßen schon eine eigenartige Wendung. Aber selbst wenn man die Ewigkeit vor Augen hat, ist man nicht imstande, die Zukunft zu sehen. Ich zumindest bin es nicht.
~ღ~
Als es Zeit wurde, machte mich also auf den Weg zu dem Antiquitätenladen.
Ich schwöre bei allen Mächten, dass ich nicht mit dem rechnete, was dann passierte. Und was ich zuvor noch aus tiefsten Herzen bedauert hatte, geschah diesmal aus reinem Hass. Ich brauchte Nicolas Morlet nicht, um mich zu nähren. Ich hatte es bereits an einem Menschen getan, den ich hatte leben lassen wollen. Grund genug, den Antiquitätenhändler hinzurichten, als ich in ihm den Mann erkannte, der mir im Kampf den Arm gebrochen, und der seine Zähne in meinen Hals gebohrt hatte. Als er mit mir fertig gewesen war, hatte er erneut zugebissen, um meine Schlagader zu zerfetzen und damit meinen Tod sicherzustellen. Dann hatte
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