Verräterische Gefühle
stumme Wächter das Ufer des dunklen Gewässers, das der Albtraum seiner Kindheit gewesen war …
„Du bist untergegangen wie ein Stein.“
Mit den Gedanken weit zurück in der Vergangenheit fuhr Nathaniel herum – und starrte seinem ältesten Bruder ins bleiche Gesicht. Wut, so heiß wie ein Feuerball, stieg in ihm hoch, und in der nächsten Sekunde landete seine geballte Faust auf Jacobs Kinnspitze. Dieser wankte kurz, fiel aber nicht um.
Nathaniels Fäuste sanken herab. Es war, als hätte ihn plötzlich alle Kraft verlassen. „Was, zur Hölle, hast du hier zu suchen?“
„Ich dachte, es wäre an der Zeit.“ Prüfend betastete Jacob die getroffene Stelle.
„Weil wir endlich alle erwachsen sind?“, höhnte Nathaniel. „Das haben wir auch ohne dich geschafft, wie du sehen kannst!“
Es folgte ein langes Schweigen, in dem nur das Heulen des bitterkalten Windes zu hören war.
„Gehst du eigentlich nie an dein Handy?“, fragte Jacob schließlich.
„Nur, wenn mich jemand anruft, den ich sprechen will.“
„Du hast jedes Recht, wütend auf mich zu sein. Die Szene im Theater tut mir leid, ich hätte dich vorwarnen müssen.“
„Warum hast du es nicht getan?“
„Vielleicht hatte ich Angst, dass du mir ausweichst.“
„Und warum bist du jetzt hier?“
Jacob seufzte und schlug den Mantelkragen hoch. „Ich wollte dich sehen.“
„Das hast du ja nun, also … leb wohl.“
Damit wandte er sich zum Gehen, doch sein Bruder hielt ihn zurück. „Ich werde nicht gehen. Ich bin gekommen, um zu bleiben.“
Nathaniel verharrte und schaute auf die Hand hinunter, die seinen Arm umklammert hielt. Die Hand, die ihn damals aus dem See gezogen und sein Leben gerettet hatte … und die für den Tod ihres Vaters verantwortlich war.
Katies Worte hallten in seinem Kopf wider. Jacob will Versöhnung und Wiedergutmachung. Hör auf, immer davonzulaufen …
Als Nathaniel aufsah, las er Schmerz und Selbstanklage in den Augen seines Bruders. „Du siehst furchtbar aus“, stellte er mit schonungsloser Offenheit fest.
„Danke, Bruder!“ Jacobs Lachen ließ jeden Humor vermissen. „Als angeblicher Sexiest Man Alive machst du auch nicht gerade viel her. Wie müssen dann erst deine Konkurrenten aussehen?“
Nathaniel lächelte widerwillig. „Abscheulich.“
„Zu viel Party nach der Sapphire-Verleihung?“
Dass er sämtliche Partys geknickt hatte, weil er Katie gefolgt war, nur um festzustellen, dass sie sich bereits auf dem Weg nach England befand, behielt er lieber für sich.
Sie ist einfach gegangen! Ohne mir ihre Neuigkeiten mitzuteilen.
Die schreckliche Leere in seinem Innern war unerträglich.
Jacob ließ seinen Bruder keine Sekunde aus den Augen. „Was hat dich hierher zurückgebracht?“
„Ganz ehrlich? Eine Frau hat behauptet, ich wäre ein Feigling. Und nun bin ich hier, um diese Theorie zu überprüfen.“ Anstatt seinen Bruder anzusehen, blies Nathaniel eisigen Atem in die klirrend kalte Luft.
Jacob lachte leise. „Das hast du schon als Kind immer getan: den feuerspuckenden Drachen gemimt und uns damit unterhalten. Ständig hast du vorgegeben, jemand anderer zu sein. Das war dein Ausweg aus der Hölle …“
„So wie du dich in jedes Rugby-Spiel gestürzt hast, um die Schrammen und Wunden erklären zu können“, erinnerte Nathaniel sich.
„Hast du die Balance zwischen Spiel und Realität langsam gefunden?“
Realität? Ist es das, was ich mit Katie geteilt habe?
Lange starrte Nathaniel auf die bleigraue Oberfläche des Sees … und sah nichts. Keine Monster, keine Geister, nur dunkles, kaltes Wasser. „Ich habe Carrie meinen Sapphire Award gegeben“, sagte er dann.
„Ja, ich habe deine Rede gehört. Konnte sie die Verbindung herstellen?“
„Ich glaube ja, zumindest für einen kurzen Zeitraum. Vielleicht wünsche ich mir das aber auch nur. Für Sebastian ist es noch schlimmer, an ihn erinnert sie sich gar nicht.“
Nach einem kurzen Zögern legte Jacob eine Hand auf Nathaniels Schulter. „Was immer Vater euch versuchte weiszumachen … Carrie hat euch geliebt. Selbst, als sie in jener Nacht mit dir in den See gegangen ist, glaubte sie, dich vor ihm beschützen zu müssen. Sie war krank.“
Nathaniel wagte kaum zu atmen. Seit zwanzig langen Jahren war es das erste Mal, dass ihn ein Mitglied seiner Familie berührte. „Warum hast du mich nicht zurückgeschlagen?“
„Jetzt eben?“ Jacob grinste schief. „Weil ich den Kinnhaken verdient habe. Aber keine Bange, genehmigt war
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