Verrat in Paris
Meine Güte, wie großzügig von dir!«
»Der Junge hat das Beste vom Besten bekommen – alles, was er wollte. Jetzt ist er 21. Ich stehe nicht mehr in der Verantwortung für ihn.«
»Deine Verantwortung«, sagte Nina, »fängt jetzt erst an.«
Richard schob Beryl um die Ecke, gerade als Nina aus der Nische auftauchte. Sie stürmte an ihnen vorbei, zu verärgert, um sie beide zu bemerken. Sie hörten ihre hohen Absätze auf den Stufen nach unten.
Einen Moment später trat eine zweite Gestalt aus der Nische.
Sie bewegte sich wie ein alter Mann.
Es war Philippe St. Pierre.
Er ging zur Brüstung und schaute hinunter auf die Menge. Fast schien es, als wollte er sich aus dem dritten Stock in die Tiefe stürzen. Dann seufzte er tief und folgte Nina die Stufen hinab.
Im untersten Stockwerk zerstreute sich die Menge allmählich.
Anthony war bereits gegangen; die Vanes auch. Aber Marie St.
Pierre stand noch immer in ihrer Ecke, die verlassene Frau, die darauf wartet, dass man sie abholt. Am anderen Ende des Raums stand ihr Ehemann Philippe mit einem Glas Champagner in der Hand. Zwischen den beiden befand sich die makabre Skulptur, der Mann und die Frau aus Bronze, die einander bei lebendigem Leib verspeisten.
Beryl dachte, dass Anthony mit seinem Kunstwerk vielleicht ins Schwarze getroffen hatte. Wenn die Menschen nicht aufpassten, konnte die Liebe sie vereinnahmen, sie zerstören.
Wie sie Marie zerstört hatte.
Das Bild von Marie St. Pierre, allein und verloren in der Ecke, beschäftigte Beryl noch auf dem Weg zurück zur Wohnung. Sie dachte, es müsste schwer sein, die Frau eines Politikers zu 172
spielen – immer souverän, immer freundlich, immer für ihn da, bloß keine Xanthippe sein. Selbst wenn man wusste, dass der eigene Mann in eine andere Frau verliebt war.
»Sie muss es schon seit Jahren wissen«, sagte Beryl leise.
Richard hielt den Blick auf die Straße gerichtet, als er sie zurück nach Passy chauffierte. »Wer?« fragte er.
»Marie St. Pierre. Sie muss von ihrem Mann und Nina gewusst haben. Jedes Mal, wenn sie Anthony ansieht, erkennt sie die Ähnlichkeit. Und das muss wehtun. Und trotzdem hat sie ihn die ganze Zeit ertragen.«
»Und Nina«, ergänzte Richard.
Beryl lehnte sich zurück. Sie war verwirrt. Ja, sie erträgt Nina.
Und das verstehe ich nicht. Wie kann sie so nett zu der Geliebten ihres Mannes sein, so höflich? Und zu seinem Bastard von Sohn …
»Hältst du Philippe für Anthonys Vater?«
»Natürlich, davon sprach Nina doch. Dieses Gerede von Philippes Verantwortung. Sie meinte damit: für Anthony.«
Sie hielt inne. »Die Kunstschule muss sehr teuer sein.«
»Und Philippe wird über die Jahre ein nettes Sümmchen zur Unterstützung des Jungen hingelegt haben. Ganz abgesehen von Ninas Ansprüchen, ihrem extravaganten Geschmack, um es mal so zu nennen. Ihre Witwenrente hätte niemals ausgereicht, um …«
»Was meinst du?« fragte Beryl.
»Ich muss gerade an ihren Mann, Stephen Sutherland, denken.
Er brachte sich einen Monat nach dem Tod deiner Eltern um –
er sprang von einer Brücke.«
»Ja, das hast du mir erzählt.«
»Ich habe all die Jahre geglaubt, sein Tod hinge mit der Delphi-Sache zusammen. Ich hielt ihn für den Maulwurf und dachte, er hätte sich umgebracht, weil er kurz vor der Enttar-nung stand. Aber was, wenn die Gründe für seinen Selbstmord 173
rein persönlicher Natur waren?«
»Seine Ehe.«
»Und der kleine Anthony. Vielleicht hatte Stephen herausgefunden, dass er gar nicht sein Sohn war.«
»Aber wenn Stephen Sutherland nicht Delphi war …«
»Dann müssen wir wieder von vorn anfangen. Eine
unbekannte Person. Oder mehrere.«
Oder mehrere. Von denen vielleicht noch jemand am Leben war. Und Angst vor Entdeckung hatte.
Instinktiv drehte sie sich um, um zu kontrollieren, ob sie verfolgt würden. Hinter ihnen war der Peugeot mit den beiden französischen Agenten; dahinter konnte sie nur eine Reihe Lichter erkennen. Richard hat Recht gehabt, dachte sie. Sie hätte in der Wohnung bleiben sollen. Sie hätte sich bedeckt halten sollen, sich unsichtbar machen sollen. Heute Nachmittag konnte jemand sie gesehen haben. Oder sie wurde jetzt gerade verfolgt und jemand beobachtete sie aus dieser Lichterflut heraus.
Plötzlich wünschte sie sich zurück in die Wohnung, in die Sicherheit dieser vier Wände. Die Fahrt nach Passy kam ihr endlos vor, eine Fahrt durch die Dunkelheit, die voller Gefahren steckte.
Als sie endlich vor dem Gebäude ankamen,
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