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Verraten

Verraten

Titel: Verraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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Verschickt: Dienstag, 14. Oktober 2003, 12:52
Betreff: RE: Hi
     
    Susan,
[susan] was du über die Beschränkungen mancher Men-
schen geschrieben hast, verstehe ich nicht so ganz.
     
    [sil] Ich wollte damit sagen, dass jeder Mensch mit seinen eigenen Stärken und Schwächen geboren wird. Jeder unterliegt gewissen Beschränkungen, auch du und ich, und die Grenze des persönlichen Begriffs- oder Leistungsvermögens liegt nicht bei jedem auf demselben Niveau. »Was nicht drinsteckt, kann man auch nicht rausholen«, so in dem Sinne. Manchmal stört mich die Beschränktheit meiner Mitmenschen, aber mir ist klar, dass ich sie nicht ändern kann - weil sie innerhalb ihres Rahmens funktionieren, und ich mich nun mal innerhalb eines anderen Rahmens bewege. Das habe ich inzwischen eingesehen. Aber das bedeutet nicht, dass ich innerhalb der Grenzen der anderen leben kann oder will. Ich bleibe ich.
     
    [susan] Ich muss das unbedingt mal loswerden; vielleicht begebe ich mich auf dünnes Eis, wenn ich dir gestehe, dass mir unser Kontakt sehr am Herzen liegt. Aber du sollst wissen, dass mich gleichzeitig Gewissensbisse plagen. Du weißt schon, warum. Glaube ich.
     
    [sil] Wenn sich deine Gewissensbisse auf Alice beziehen (stimmt doch, oder?), kann ich dich beruhigen. Mit ihr führe ich diese Art von »Gesprächen« nicht. Als ich sie kennen lernte, dachte ich über viele Dinge noch anders. Doch im Laufe der Zeit habe ich mich verändert. Sie sich nicht, aber das kann man ihr nicht zum Vorwurf machen. Die Liebe ist geblieben und wird, wie ich es im Moment sehe, auch nicht vergehen.
     
    Ich freue mich auch auf deine E-Mails. Hoffe, dass es dir gut geht (und dass dir keine Typen mit antiquiertem Frauenbild über den Weg laufen, schließlich bin ich ja nicht da, um dich zu beschützen!). Frage mich manchmal, wo die Grenze liegt. Bagatellisiere das Ganze dann, indem ich mir einrede, dass doch nichts dabei ist, miteinander zu reden, oder?;- ) Mach dir keine Sorgen. Sil
     
    PS: Willkommen zu Hause.
     
    »Nein, Sil«, sagte sie laut. »Es ist nichts dabei, miteinander zu reden.« Sie drückte die rechte Maustaste und der Drucker erwachte summend zum Leben. Das DIN-A4-Blatt glitt aus dem Hewlett-Packard heraus. Sie lochte es und heftete die ausgedruckte Mail in dem Ordner ab. Stellte den Ordner wieder zurück und starrte ausdruckslos auf den Bildschirm.
    »Wo liegt die Grenze?«, fragte sie sich laut. Die Antwort fügte sie im Stillen hinzu: Die Grenze liegt in der Distanz, die wir wahren müssen. Kein Kontakt in der wirklichen Welt.
    Er liebte Alice, und das würde immer so bleiben. Das hatte sie schwarz auf weiß. Alice war seine Frau, mit der er bis ans Ende seiner Tage zusammenbleiben würde, und sie war nur die Freundin-auf-Abstand, mit der er seine Gedanken teilte. Seine verbale Sparringspartnerin. Oder bedeutete sie ihm vielleicht sogar noch weniger? Schließlich war es einfacher, seine innersten Gedanken einer Tastatur anzuvertrauen als einem Menschen aus Fleisch und Blut. Waren die Mails an sie nichts weiter als eine Möglichkeit, Worte loszuwerden, wie eine Form des Tagebuchs, zufällig gerichtet an eine Hotmail-Adresse, einen Resonanzkörper ohne Gesicht?
    Sie schüttelte den Kopf. Es war spät, sie wurde gefühlsduselig und war nicht klar im Kopf. Morgen würde alles schon wieder ganz anders aussehen. Kurz darauf schlüpfte sie wieder ins Bett und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf.
     

2
     
    Das Gewerbegebiet machte einen trostlosen Eindruck. Der anhaltende Regen hatte graue Pfützen auf dem Asphalt hinterlassen, die das orangefarbene Licht der Straßenlaternen in bizarren Formen widerspiegelten. Die meisten Betriebe, die auf der Welle des Wirtschaftswachstums mitgeschwommen waren, hatten sich inzwischen an anderen, prestigeträchtigeren Orten niedergelassen. Zurückgeblieben war dieses Durcheinander von mangelhaft in Stand gehaltenen Lagerhallen und kleinen Bürogebäuden, verfallen und verrostet, weggedrängt in eine vergessene Ecke der Stadt. Inzwischen hatten sich Firmen darin angesiedelt, die sich keinen Deut um den äußeren Eindruck scherten oder die die schäbige Umgebung nicht einmal wahrnahmen: Abbruchunternehmer, Schrottplatzbetreiber und Alteisenhändler. Hier und da standen Gebäude leer und waren zu vermieten. Manche schon seit über einem Jahr. Die einst so farbenfrohen Reklameschilder waren ausgeblichen, Plakate von Wind und Regen zerrissen. Schon an einem normalen

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