Verruchte Begierde: Roman (German Edition)
Anfangen zu schreien?
Der Pathologe schlug das Laken auf.
Vielleicht hatte sich ja irgendwer einen geschmacklosen Schmerz mit ihr erlaubt? Oder vielleicht war dies alles nur ein grässliches Versehen?
Sie starrte auf den Mann, der das Laken hielt, und er sah die unausgesprochene Frage und den Unglauben in ihrem Blick.
»Der Aufprall hat ihn getötet«, erklärte er ihr sanft. »Der Laster hat ihn von hinten erwischt, und das Trauma hat sich über sein Rückgrat bis in seinen Schädel ausgedehnt. Er hat eine Schwellung am Rücken. Davon abgesehen …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende aus.
Kari starrte auf den Körper ihres Mannes. Er sah aus, als schliefe er. Sein Gesicht war vollkommen entspannt. Das silbergraue Haar, das sie bei ihrer ersten Begegnung so attraktiv gefunden hatte, war ordentlich frisiert. Die Hand, die neben seinem Körper lag, sah aus, als ruhe sie sich nur ein wenig aus, wäre aber jederzeit bereit, sich einen Tennisschläger zu schnappen oder ihr über das Haar zu streichen, wie er es so gerne tat.
Sein hochgewachsener Körper wirkte noch genauso stark wie am Vormittag, als er sie zum Abschied in den Arm genommen hatte. Er hatte geradezu fanatisch in einem Fitness-Studio trainiert, um seine straffen Muskeln zu erhalten und damit er nicht wie viele andere Männer seines Alters auseinanderging.
»Thomas, Thomas, Liebling.« Die Wände des kalten Raumes warfen ihre geflüsterten Worte laut zurück. Fast hätte sie erwartet, dass er die Augen öffnen würde, um sie lächelnd anzusehen. Dass sie wieder das wunderbare Blitzen seiner leuchtend blauen Augen sehen und hören würde, wie er ihr mit seiner volltönenden Stimme eine Antwort gab.
Sie hatte gedacht, es würde unerträglich, seinen malträtierten Leib zu sehen. Doch es war beinahe noch schlimmer, dass er so normal erschien. Sein unberührter Zustand machte alles nur noch irrealer und absurder. So, als wäre all das nicht geschehen.
Doch es war geschehen. Weshalb er schrecklich still auf diesem Stahltisch lag.
»Wo sollen wir ihn hinschicken?«
»Ihn hinschicken?«
»Ich werde Sie nachher anrufen«, wandte sich Pinkie an den Mann. »Mrs Wynne hatte noch keine Zeit, um irgendwas zu arrangieren.«
»Verstehe.« Der Pathologe wollte Thomas wieder zudecken.
»Warten Sie!«, schrie sie. Ihre Worte prallten gespenstisch von den Wänden ab. Sie konnte Thomas nicht alleine lassen. Nicht an diesem grauenhaften Ort. Nicht in diesem kalten, kalten Raum.Wenn sie ihn hier liegen
ließe, mit dem Laken über dem Gesicht, wäre es offiziell. Damit käme sie noch nicht zurecht. Sie konnte sich ganz einfach noch nicht eingestehen, dass Thomas, dass ihr Ehemann nicht mehr am Leben war.
Pinkie legte ihr sanft die Hände auf die Schultern. »Komm, Kari, wir müssen wieder gehen.«
»Thomas.« Ein dichter Strom von Tränen rann ihr über das Gesicht. Zögernd streckte sie die Finger nach ihm aus. Berührte sein Haar und seine Stirn.
Dann brach sie wild schluchzend in Pinkies Armen zusammen, und er führte sie hinaus.
Der Zusammenstoß war völlig unerwartet, einmalig, bizarr gewesen, sagten alle Zeugen aus. Es war ein schöner Tag gewesen, doch aus irgendeinem Grund hatte der Fahrer des Lieferwagens plötzlich die Kontrolle über das Fahrzeug verloren, als er um eine Ecke gebogen war. Der Laster war ins Schwanken geraten, auf den Bürgersteig gekracht und hatte Denver einer seiner angesehensten Bürger sowie Kari Stewart Wynne ihres Ehemanns beraubt. Er war nach einer Verabredung zum Mittagessen auf dem Weg zurück in Richtung des Gerichts gewesen. Hatte sich dabei wahrscheinlich in der trügerischen Sicherheit gewiegt, die die meisten Menschen den Gedanken daran, dass sie einmal sterben müssen, erfolgreich verdrängen ließ.
Doch der Aufprall auf den Gehweg hatte ihn sofort getötet.
Kari starrte auf den blumengeschmückten Sarg. Konnte es tatsächlich sein, dass ihr dynamischer, vitaler Ehemann leblos in dieser Kiste lag?
Sie packte Pinkies Hand. Er war ihr in den letzten beiden Tagen eine große Stütze gewesen und hatte unzählige Details geklärt, während sie selber wie in Trance herumgelaufen war. Sie war dankbar für dieses mentale Niemandsland, in dem sie sich bewegte. Denn es schützte sie vor der Realität. Ohne diesen Rückzugsort käme sie mit alldem sicher nicht zurecht.
Sie hatte keine Eltern mehr, die ihr hätten beistehen können. Ihre Mutter war gestorben, als sie noch ein Kind gewesen war, und ihr Vater, den sie
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