Verrückt bleiben
Lebensbewältigungsmaßnahmen: die Hose nicht zu eng, die Wurst auch ohne Brot, auf keinen Fall in den Spiegel sehen, niemandem die Tür öffnen.
Ein frischer Schlafanzug wirkt manchmal Wunder. Legen Sie eine DVD ein, nichts Neues, lieber einen vertrauten Film, über den Sie lachen oder wenigstens müde lächeln können. Für mich wäre das »Zur Sache, Schätzchen«, der hilft mir immer. Der Film ist auf illusionslose Weise lustig, er ist intelligent, aber nicht oberschlau, er ist sexy, aber frei von Kitsch. Ein kleiner Film für kleine Tage. Jetzt suchen Sie die Lobeshymne heraus, die sie vorbeugend (an einem überschwänglichen Tag) auf sich selbst geschrieben haben. Da steht drin, wie einzigartig Sie sind, wie extrem gutaussehend, wie klug. Da steht auch drin, wie viel Sie im Leben gemeistert haben und wie stolz Sie auf sich sein können. Hilft das nicht, öffnen Sie Ihren Glückskoffer (siehe Kapitel »Glücksmomente«) und lassen Sie die schönen Momente ihres Lebens herausstrahlen.Ausnahmslos alle großen Fragen sollten auf morgen vertagt werden.
Große Fragen, das sind die, die sich immer dann anschleichen, wenn man selbst klitzeklein ist, so klein mit Hut. Krankheitsdiagnosen, Verlassungen, Entliebungen, Jobverluste, alles führt unweigerlich hin zu den großen Fragen, die in solchen Momenten wirklich niemand braucht: »Gibt es Gott?«, »… Gerechtigkeit?«, »… ein Leben nach dem Tod?«, »Was ist das Nichts?«, »Kann der Atomausstieg die Welt retten?« Und von all diesen Fragen ist letztlich die größte: »Was soll die ganze Scheiße eigentlich?«
Es ist haargenau diese Frage, die man in guten Momenten tausendfach beantworten könnte. Es hat ja alles einen Sinn, diesen und jenen. Die Blumen blühen, die Sonne scheint, XY hat mich angelächelt, der Uwe, der liebt mich so, wie ich bin, und wenn es Uwe nicht ist, dann ist es Erika oder Anika oder eben Gott, ganz egal. Aber genau diese kleinen, wundervollen und beschwichtigenden Antworten auf die ganz großen Fragen benötigt man gar nicht, wenn es einem gut geht, weil es einem ja gut geht, und dann stellt sich der Mensch nicht hin und fragt, was das alles soll. Er isst, er trinkt, er fährt in den Urlaub oder kauft sich einen Goldfisch. Ein Zipfelchen Glück – er hat es, aber er ist nicht dankbar, wem auch? Er schwimmt im Aquarium wie sein Goldfisch, er schwimmt mit seinem Goldfisch um die Wette, Fütterung und Tränkung sind gesichert. Er mampft sein Leben rein wie Fischfutter, einfach, weil er es kann.
»Think big«, hören wir immer. Visionen sollen wir haben, über den Tellerrand sollen wir schauen, uns Ziele stecken, unsere Träume leben, unserem Stern folgen, mit dem Herzen gut sehen, Strom sparen, Vollzeit arbeiten, uns vermehren – gut und schön, aber wie denn mit einem Gipsbein, mit einem Schnupfen, mit einem schlechten Befund?
Fangen Sie tausend Dinge an, die Sie auf unbetretene Pfade lenken, streifen Sie geistesabwesend durch die dunkel verhängteWohnung, waschen Sie sich nicht, lassen Sie den Müll aus Tüten dampfen, dass es stinkt wie im Raubtierhaus, werfen Sie Knöchelchen und Gläser hinter sich, leeren Sie weder Briefkasten noch Mailbox, drehen Sie die Musik auf Maximum und lachen Sie dabei auf wie ein von der Welt vergessener Zombie.
Verschieben Sie die großen Fragen auf die großen Tage mit den großen Momenten, den großen Gefühlen und den großen Gedanken. Die kommen wieder. Meist kommen sie wieder. In Zeiten der Not muss man auf die eigenen Füße schauen. Man muss sich leermachen, dann wieder aufstehen, sich neu füllen. Seien Sie Ihr eigener Krisenbewältigungsstab. Halten Sie weitreichende Entscheidungen von sich fern. Stecken Sie – vorübergehend – den Kopf in den Sand. Verschieben Sie die großen Fragen an kleinen Tagen. Die Faustregel dafür ist so griffig wie kurz: »Think small!«
6. Allein Allein
»Wir sind allein, Allein allein, Allein allein, Allein allein, Allein allein.«
Polarkreis 18
Ich hab mal einen Film mit Sally Field gesehen, da spielte sie eine Schizophrene, und Weihnachten haben sich ihre 23 Persönlichkeiten gegenseitig beschenkt – die Geschenke wurden über Schubladen verteilt. Das war eine der Filmszenen, von der ich im Moment des Sehens wusste, dass sie mich lebenslang begleiten wird, weil sie mein Paradoxon zeigt: 1. Man ist nie allein. 2. Man ist immer allein.
Zu 1.: Man ist nie allein – Schriftsteller sowieso nicht. In jeder erdachten Figur steckt ein Teil von uns. Wir stopfen
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