Verrückte Lust
sich an dem Geländer drängten, beugte Tony Bring sich
unwillkürlich vor und suchte mit brennendem Herzen so etwas wie ein Erkennen in ihren leuchtenden Augen zu entdecken.
Doch heute nacht war die Nische, in der Hildred wie eine Schutzpatronin zu thronen pflegte, leer. Er ging hinein und bestellte etwas zu essen. Im Essen lag eine tote Kakerlake, doch er war zu hungrig, um zu reklamieren. Plötzlich trat Earl Biggers ein und schob seinen massigen Körper zwischen den Tischen hindurch wie ein Granitblock, der einen Abhang hinunterrutscht. In seiner Begleitung war eine herb wirkende Frau, die wie ein französischer Kavallerist aufgemacht war. Er erkannte sie nach der Beschreibung, die Hildred ihm einmal gegeben hatte. Es war, wie sie gesagt hatte: Die Frau hatte einen Zug um Augen und Mund, der ihr, trotz ihrer Herbheit, etwas Attraktives gab. Es war allgemein bekannt, daß sie eine Schwäche für kräftige, athletische Männer hatte. Außerdem gab es auf keiner amerikanischen Bühne eine Frau, die ihr an Unflätigkeit gleichkam – und angesichts der Konkurrenz war das ein Kompliment der ersten Sorte.
Er sah gespannt zu, während sie ihre großen, verderbten Augen in die Runde schweifen ließ. Man konnte sie kaum als Augen bezeichnen, da sie nicht so sehr Instrumente der Wahrnehmung als vielmehr riesige, bewegliche Trommeln voll Licht waren, die mit großer Zielsicherheit eine silberne Flut über die Reihe der Gesichter ergossen. Wenn eine der
schlüpfrigen Bemerkungen, die sie ständig von sich gab, eine Reaktion hervorrief, weiteten sich ihre Nüstern und bebten wie die einer rossigen Stute.
Jemand zeigte ihr ein Buch. »Das hab ich gelesen«, sagte sie, und das emailleartige Weiß ihrer Zähne schimmerte lasziv.
»Hat es Ihnen gefallen?« wurde sie gefragt.
»Ob es mir gefallen hat? Als ich damit fertig war, mußte ich einfach an mir herumspielen.«
Earl Biggers errötete. »Du bist ein Schatz«, sagte sie. »Du bist so groß und stark, daß du den Bach runtergehen wirst, wenn du nicht aufpaßt«, und griff ihm unter dem Tisch ans Bein.
In diesem Augenblick trat eine ziemlich bekannte Frau mit einem Monokel ein.
Biggers sagte, sie sei die Geliebte einer prominenten
Broadway-Schauspielerin.
»Tatsächlich?« rief sie, laut genug, daß alle es hören konnten.
»Die Frau würde ich gerne kennenlernen. Das ist das einzige, das ich noch nicht ausprobiert habe.«
Diejenige, die mit dieser Bemerkung gemeint war, fühlte sich keineswegs beleidigt, sondern begann sich zu spreizen. Tony Bring betrachtete die Kakerlake, die er neben den Teller gelegt hatte. Ihm war der Appetit vergangen.
Hildred war bereits ausgezogen, als er eintrat. Sie hatte sich das Gesicht eingecremt, und in ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette.
»Wo bist du gewesen?« fragte sie. Sie schien ungehalten.
Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: »Herrgott, ich weiß nicht, was ich tun soll… Vanya ist verschwunden!«
»Wie schön«, sagte er. »Hoffentlich hat sie sich ersäuft…
Und du«, fuhr er fort, »weißt du, was ich von dir halte? Ich glaube, du bist verrückt. Ich glaube, wenn ich halbwegs normal wäre, würde ich dich fesseln und verprügeln, daß dir Hören und Sehen vergeht. Ich glaube, ich bin genauso verrückt wie du, mir das alles ruhig anzusehen. Bei Gott, ich schwöre, wenn dieses Weibsstück noch mal hier auftaucht, dann mach ich sie fertig. Und dich ebenfalls, daß du’s nur weißt. Du hast mich wahnsinnig gemacht mit deinem Vanya hier und Vanya da.
Scheiß auf Vanya! Sie ist verschwunden? Gut. Ich hoffe, sie hat den Löffel abgegeben. Ich hoffe, sie finden nicht mal mehr einen Zehennagel von ihr. Ich hoffe, sie liegt in irgendeiner Kloake, und in ihrem Bauch bauen sich die Ratten ein Nest.
Von mir aus kann ganz New York vergiftet werden, wenn sie nur weg ist und weg bleibt…«
6
Ja, sie war verschwunden. So spurlos, als hätte sich die Erde aufgetan und sie verschluckt. Kaum hatte sich die Neuigkeit herumgesprochen, da hieß es schon, sie sei in Taos, doch sogleich tauchte ein Gerücht auf, sie sei in einer Opiumhöhle in der Pell Street gesehen worden. Dann kam eines Tages ein Brief: »Liebe Hildred, ich bin hier auf der Psychiatrie-Station.
Eine der Schwestern war so freundlich, diesen Brief
hinauszuschmuggeln. Bitte komm sofort – wenn ich noch einen einzigen Tag hier bleiben muß, werde ich wirklich verrückt. Die Schwester sagt, daß sie mich gehen lassen, wenn jemand dafür bürgt, daß ich
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