Verrückte Lust
Anweisung. Es schien Hildred, als wäre nur ein Augenblick vergangen: Vanya stand in der Tür, unschlüssig zunächst, dann innerlich jubelnd. Ihr Haar war länger geworden; in ihrem Gesicht war ein beinah blutdürstiger Ausdruck.
»Hildred!« rief sie. »Du bist also doch gekommen!« Fast riß sie ihre Freundin um, als sie sich in ihre Arme stürzte.
»Ruhig, Vanya, ruhig!« flüsterte Hildred, als sie sich umarmten.
»Herrgott, Hildred, ich dachte, du würdest nie mehr kommen.
Jeden Tag hab ich von morgens bis abends auf die Uhr
gestarrt… Du mußt mitkommen auf die Station – alle wollen dich kennenlernen. Warte nur, bis ich dich George Washington vorstelle, sie ist absolut umwerfend.«
»Vorsicht, Vanya!« sagte Hildred und gab ihr einen kleinen Rippenstoß. Dann fuhr sie mit erhobener Stimme fort: »Du bist sehr angespannt, meine Liebe. Es muß schrecklich für dich gewesen sein.«
Vanya drückte ihre Hand.
»Mach dir keine Gedanken, Vanya«, sagte Hildred, »es ist alles in Ordnung. Ich nehme dich mit nach Hause.«
Titsworth beobachtete sie wortlos. Als sie zurück zur Station gingen, kam ihnen auf dem Korridor eine Gruppe
Krankenschwestern entgegen. »Hallo, ihr Lieben! Ich gehe nach Hause, ich gehe nach Hause!« rief Vanya. Dann drückte sie Hildreds Arm an sich und flüsterte: »Siehst du die kleine Blonde da drüben? Sie ist in mich verliebt. Deswegen hat sie den Brief für mich rausgeschmuggelt.«
Tony Bring erfuhr die Neuigkeiten bald darauf. Hildred erzählte ihm sogleich von ihrer Absicht, ihr Mündel in ihrer gemeinsamen Wohnung aufzunehmen. Es gab eine Szene.
Eine Stunde oder länger schrien und tobten sie. Schließlich schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Nein!« sagte er.
»Kommt nicht in Frage!«
Dann kam Vanya bei ihnen vorbei. Sie sprach mit ihm, sanft und nachdenklich. In ihren Augen war immer noch eine Spur von Wahnsinn – sie waren groß und blickten unstet, große schwarze Punkte, die in grüner Tinte schwammen. In ihren Worten ließen sich noch stets Reste jenes eigenartigen Akzents ausmachen, von dem Titsworth Hildred gegenüber gesprochen hatte. Sie war verändert. Es war um sie etwas Verängstigtes, Gedämpftes.
Es gab Tage, da tat Hildred nichts, außer ihr Mündel ins Theater oder zu einem Konzert mitzunehmen. Es gab die
unvermeidlichen Kosten für Taxis und kleinere Ausgaben für Gardenien und Orchideen. Wenn Vanya auch nur seufzte, war Hildred schon beunruhigt. Vanyas flüchtigste Wünsche
mußten sogleich befriedigt werden. Als Vanya also das
Verlangen überkam, wieder zu malen, machte sich Hildred eilends auf den Weg und besorgte eine verwirrende Vielfalt von Materialien. Alles nur vom Feinsten. Eine gewöhnliche Staffelei kam nicht in Frage – nicht für ein krankes Genie. Es mußte eine sein, die sich von anderen Staffeleien grundsätzlich unterschied. Was sie dann nach Hause brachte, war ein
verziertes Gerät javanischer Herkunft, das sie, wie sie sagte, geradezu spottbillig bekommen hatte. Alles, was teuer
gewesen war, hatte sie geradezu spottbillig bekommen.
Wenn er die Situation mit offenem, unverstelltem Blick betrachtete, fragte sich Tony Bring, was für einen Unterschied es wohl machen würde, wenn sie sich tatsächlich zu einer menage à trois entschließen würden. Zwar hatte er sich geweigert zu erlauben, daß Vanyas Schrankkoffer in seine und Hildreds Wohnung gebracht wurde, aber was hieß das schon?
Hielt sie das davon ab, in ihrem Bett zu schlafen, in ihrer Badewanne zu baden, gelegentlich seine Krawatten zu tragen oder Kritik an der Höhe der Ausgaben für den Haushalt zu äußern?
7
»Sie waren verrückt, nicht ich! Sie haben mich festgebunden, ich weiß gar nicht mehr wie lange. Ich bekam keine Luft mehr.
Ich hab sie angebettelt, sie sollten mich losmachen – nur für fünf Minuten –, aber sie haben mich bloß ausgelacht. Im Bett neben mir war George Washington. ›Laß mich dich Herzchen nennen – ich liebe dich…‹ Tag und Nacht hat sie mir damit in den Ohren gelegen. Die Frau hat mich verrückt gemacht. Von morgens bis abends, und dann die ganze Nacht hindurch –
Schätzchen… Schätzchen … Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.
Ich bin geplatzt. Herrgott, wißt ihr eigentlich, wie das ist, wenn man festgebunden ist? Nein, das wißt ihr nicht! Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Man tritt, man schreit, man flucht. Sie kommen und schütteln die Köpfe über einen, sie lachen. Sie bringen einen dazu zu glauben, daß
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