Verrückte Lust
Sie benahm sich wie eine Witwe, die auf den Friedhof ging, um über dem Grab ihres Mannes zu flirten.
Das Herzklopfen, das er sonst hatte, wenn er Vanyas Papiere durchwühlte, blieb aus. Er vergaß sogar, den Kopf zu
schütteln, mit jener Betrübtheit, die so seltsam charakteristisch für ihn war. Er las, bis seine Neugier befriedigt war – das hieß, er las alles –, und legte die Briefe wieder an Ort und Stelle. Ein beinah freudiges Grunzen entfuhr ihm.
An diesem Abend kehrten die beiden ziemlich früh zurück.
Vanya brannte noch immer darauf, an dem Porträt zu arbeiten, mit dem sie begonnen hatte.
Beim Modellsitzen geht es einem oft wie in einem
Konzertsaal: Man macht es sich bequem und schläft in einem Zimmer in New York ein, um dann in einer Opiumhöhle in San Francisco oder Shanghai aufzuwachen. Unterwegs begeht man Morde und Vergewaltigungen, läßt Wolkenkratzer
einstürzen, fährt in den Tropen Schlittschuh, füttert Yaks mit Erdnüssen oder führt einen Seiltanz auf den Seilen der Brooklyn Bridge aus. Auch der Künstler ist nicht gefeit.
Buschige Augenbrauen verwandeln sich in Farne, das Auge wird ein See, in dem Tempel und Schwäne schwimmen, die Labyrinthe der Ohren träumen mythologische Träume.
Auf Tony Brings Unterlippe ist ein Muttermal. Vanya hat es schon ein dutzendmal gemalt. Sie ist geradezu besessen davon.
Für sie ist es kein Muttermal mehr, sondern eine Arena voller Halstücher und leuchtender Schärpen, voller gepanzerter Fäuste und kastrierter wilder Tiere. Sie will nicht das Gesicht malen – hat sie es denn nicht schon tausendmal im Traum gemalt? –, sondern dieses Muttermal, diese Arena ihrer inneren Konflikte, diesen Schaum der Lust, wo Männer und wilde Tiere ihre nackten Leidenschaften aufeinanderprallen lassen.
Das Muttermal hängt an seiner Unterlippe wie eine fruchtbare Terrasse am Rand eines Abgrunds.
Hildred denkt, wie sinnreich es wäre, wenn Vanya nicht ein Porträt, sondern ein melancholisches braunes Pferd malen würde, das den Raum mit Sehnsucht erfüllen würde. Das ist nur einer von mehreren Gedanken, die sie ausspricht, während sie aus Whitmans Songs of Adam vorliest. Im Eagle Building, nur ein paar Blocks entfernt, hängt der große Pan-Demokrat, der seine Ziegen-Lieder so wunderschön sang, unter Glas an einem Nagel; ein gewaltiger Sombrero erdrückt seine
buschigen Augenbrauen, der weiße Bart hat Tabaksaftflecken.
Mit jedem Tag, den er dort hängt, werden seine Lieder apokalyptischer. Der große alte Patriarch der amerikanischen Literatur, Freund von Horace Traubel und von
Eisenbahnschaffnern, Seher und Homosexueller, Bruder aller Menschen, der sich die Lenden gürtet…
Vanya wirft entnervt den Pinsel auf den Boden. »Bei diesem Durcheinander kann ich nicht nachdenken!« ruft sie.
»Ich dachte, es würde dich anregen«, sagt Hildred und klappt das Buch mit einem Knall zu.
Anstelle einer Antwort nahm Vanya die Leinwand von der Staffelei, betrachtete das Bild mit wildem Gesichtsausdruck und trat mit ihrem großen Stiefel aus Rindleder ein Loch hinein. »Ich habe Hunger!« sagte sie, und im nächsten
Atemzug, an Tony Bring gewandt: »War Walt wirklich
schwul?«
Betrübt, weil sie bei einem so wichtigen Thema einfach ignoriert wurde, stand Hildred auf und warf einen Blick in die Speisekammer. Sie kehrte mit einer Büchse Sardinen, einem riesigen Stück Sauerteigbrot, ein paar Trauben und einem Eckchen Käse zurück. Tony Bring redete gerade über
Baudelaire, von dem es hieß, sein krankhafter Trieb habe ihn dazu gebracht, sich die abstoßendsten Frauen auszusuchen: Zwerginnen, Negerinnen, Verrückte, Kranke.
»Wollt ihr Kaffee oder Tee?« fragte Hildred kalt.
»Irgendwas«, sagte Vanya, ohne aufzusehen.
Sie hatten den Tisch, an dem sie saßen, den »Kotztisch«
getauft. Kein sehr schöner Name, aber die Ausdrucksweise, derer sie sich bedienten, wenn sie hier saßen, war ja ebenfalls nicht sehr schön. Sie waren auf diesen Namen gekommen, weil sie sich hier immer wieder, manchmal abwechselnd, manchmal alle zusammen, auskotzten. Das Wort war ihnen lieb
geworden. Es war direkt und kraftvoll – wie einer von Dempseys kurzen Körperschlägen. Am Kotztisch gab es keine Verbeugungen und Handküsse, keine Umgangsformen und
Benimmregeln.
»Bist du nun pervers oder nicht?« So beginnt an diesem Abend das Gespräch am Kotztisch.
Die dunkle Frau, an die diese Frage gerichtet ist, findet diese direkte Art nicht immer angenehm, besonders dann
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