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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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auf und durchwühlte sie rasch. Er leerte sie auf den Tisch. Der Brief war verschwunden. Er sah unter den Tisch. Auch dort kein Brief. Er ging zum Bett und suchte in den Taschen ihres Capes, sah unter den Kissen nach.
    Der Brief war verschwunden.
    Auf seinem Gesicht zeichneten sich nicht bloß
    Verwunderung oder Enttäuschung ab – er war entsetzt, zutiefst entsetzt. Er sprach leise mit sich selbst, als spräche er im Schlaf. Nach all den wunderbaren Dingen, die sie zu mir gesagt hat… Beinah ein Gott… Ich bete dich an… Und doch hatte sie daran gedacht, ihn aus ihrer Tasche zu nehmen und irgendwo zu verstecken. Ihm fiel ein, wie sie ihn an sich genommen hatte – geradezu ängstlich verzweifelt. Er sah es noch deutlich vor sich. Und danach hatten sie den Brief mit keinem Wort mehr erwähnt…
    Kurz darauf kam Hildred wieder ins Zimmer. Sie lächelte ihn zärtlich an. Ihr Gesicht war so schön und unschuldig wie das eines Kindes.
    »Und jetzt«, sagte sie, trat auf ihn zu und bot sich wie ein kostbares Opfer dar, »will mein großer, starker Geliebter mich…« Sie bot ihm ihre warmen Lippen, ihre schweren,
    üppigen Brüste; sie ließ die Hände sinken und hing reglos und warm in seinen Armen.
    Als er sie zum Bett trug, dachte er: Was nun? Was nun?
    »Weißt du noch«, sagte sie, »was du damals, in unserer ersten Nacht, mit mir gemacht hast? Weißt du noch, wie…?« Ihre Stimme erstarb wie eine laue Brise. Sie sahen sich schweigend an. Ihr Blut wogte und war voller Wale und Schwäne, das Zimmer war ein leerer Raum, der vom Klang ihrer
    zerbrochenen Harfen widerhallte. Er biß sie in ihre warmen Lippen, grub seine Zähne in ihren Hals, hinterließ ein blaßrotes Mal auf ihrer Schulter. »Ah!« keuchte sie, und als sie sich einen Augenblick lang trennten, um die Glut erneut
    anzufachen, schienen die Wände des Zimmers zu wanken, und ihr Atem, der jetzt kurz und stoßweise ging, erfüllte den Raum mit einem trockenen, verdorrenden Ausatmen.
    Sie sprach zu ihm mit ihrer leisen, bebenden Stimme, die jetzt dunkler, exotischer war als je zuvor. Im gedämpften Licht schimmerte ihre Haut weiß und milchig, ihr Körper hob und senkte sich wie ein Meer, und ihr Atem umhüllte ihn mit einem süßen Duft, der seine Sinne betäubte wie eine Droge. Ihre Worte waren seltsam verändert: Es waren keine Worte mehr, die sich an seinen Verstand richteten, sondern sie waren die fleischliche, kraftvolle Essenz, die vorwärtsdrängende, elementare Kraft, die hinter den Worten steht und an den Grenzen jener Gedanken lodert, die unser Blut und unsere Instinkte färben. Er hörte sie und dachte an die
    Unterscheidungen, die sie bei ihren Bemerkungen über die Liebe gemacht hatte. Ihr ganzes Wesen schien nichts weiter als ein Vehikel zu sein, mit dem die Allgegenwart der Liebe aufgezeigt werden sollte – Körper und Seele waren vereint, um das auszudrücken. Wie lächerlich, dachte er, daß sie das Wort platonisch überhaupt in den Mund genommen hat. Das war so, als hätte jemand behauptet, man müsse ein Stromkabel immer in der ungeschützten Hand halten. Langsam beugte er sich über sie und küßte sie auf den feuchten, duftenden Mund. Ihre Zunge glitt zwischen seine Zähne, und sie lagen bebend und keuchend da. Sie gab sich seinen Liebkosungen hin,
    ermunterte ihn mit leisem Stöhnen und nahm seine Hand. Ihre Hand brannte wie Feuer, und sie führte ihn auf die fliehende Jagd. So lagen sie da, und er fragte sie nach anderen Männern, nach den Funktionen ihres Körpers, nach den intimsten Details ihres Gefühlslebens. Sie machte keinen Versuch, etwas zurückzuhalten oder ihre Empfindungen zu beschönigen. Die Antworten, die sie ihm gab, waren so nackt wie ihr Körper. Er wollte auch nicht wissen, ob sie die anderen geliebt hatte. Er wollte nur, daß sie ihre Gefühle beschrieb, daß sie Vergleiche zog, daß sie ihm ein ganz und gar umfassendes Bild ihrer Sehnsüchte, ihrer Gedanken, ihrer Impulse und Reaktionen gab.
    Als sie dann ihn befragte, stellte er fest, daß die Antworten ihm Schwierigkeiten bereiteten: Er wurde von ihnen so in Anspruch genommen, daß sie ihm nicht glauben konnte.
    Außerdem waren die Gefühle, die sie dabei empfand, weniger lustvoll, als sie gedacht hatte. Es war leichter, sich durch die eigenen Geständnisse erregen zu lassen.
    Sie verstummten wieder. Es war nichts zu hören außer ihrem Herzschlag und ihrem Atem, der stoßweise und unregelmäßig ging. Und schließlich verstummte auch er, und sie lagen

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