Verrückte Lust
verändert.
Er ging in Vanyas Zimmer. Ihre Kleider lagen in einem Haufen auf dem Boden, und unter ihrem Bett waren zahllose Zigarettenstummel. Als er sie mit dem Besen hervorkehrte, kam ein Zehn-Dollar-Schein zum Vorschein. Wenn das nicht schon öfter vorgekommen wäre, hätte ihn das sicherlich verwundert, doch derlei Dinge geschahen immer wieder.
Seltsam daran war nur, daß Geld herumflog und sich niemand darum kümmerte. Anstatt ihm dankbar zu sein, weil er es gefunden hatte, benahmen die beiden Frauen sich äußerst eigenartig – nicht ganz, aber fast so, als hätten sie den Verdacht, er könnte es ihnen gestohlen haben. Wenn sie nur einmal darüber nachdenken würden, müßten sie doch merken, wie albern dieser Gedanke war. Warum sollte er ihnen Geld zurückgeben, das er ihnen gestohlen hatte? Und andererseits: Wieso erwähnte keine der beiden jemals, daß ihr zehn Dollar fehlten, wo sie doch meist knapp bei Kasse waren? Immerhin waren zehn Dollar doch ein ganz hübscher Betrag…
Das gehörte zu den Geheimnissen, die ständig in der Luft lagen. Er blieb in Vanyas Zimmer und grübelte über ein paar neue Briefe, die zum Vorschein gekommen waren, als er die Papiere auf ihrem Tisch durchgesehen hatte. Sie stammten von der Westküste, und ihre Absender waren ausnahmslos Frauen, die Vanya mit »David«, »mein schöner Jo«, »Michael, mein Liebling« und so weiter anredeten. Einer der Briefe kam aus einem Kloster und war von einer einsamen Nonne geschrieben, deren Brüste, wie es darin hieß, traurig unter einer schwarzen Kutte hingen. In einem anderen schrieb ein Mädchen, das, dem Stil nach zu schließen, kaum älter als sechzehn sein konnte, sein Kopfkissen sei jede Nacht naß von Tränen. »Michael, mein Liebling«, stand da, »liebst du mich denn gar nicht mehr?
Gibt es in diesem schrecklichen New York eine andere, die meinen Platz eingenommen hat?« Und dann war da ein starker, vernünftiger Brief von einer Frau, deren Mann entsetzlich eifersüchtig war.
»Er wird meinem David nie verzeihen«, verriet sie in einem Einschub. Diese Frau besaß gesunden Menschenverstand. Sie war klug, füllte Seite um Seite mit liebevollen Ratschlägen und drängte ihren »David«, sich voll und ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. »Ich mache mir um Dich keine Sorgen«, schloß sie. »Ich weiß, daß Du andere Frauen kennenlernen wirst, jüngere Frauen vielleicht, mit denen Du Freundschaft
schließen wirst und die Dein Leben bereichern werden. Aber Deine Nächte gehören mir. Ich weiß, daß Du immer an mich denkst und daß Du zu mir zurückkommen wirst, wenn dieser Wahnsinn vorüber ist.«
Unter den Briefen lag eine Notiz, die Vanya geschrieben hatte. Es war offenbar eine Antwort an diese geistig
unabhängige Frau, deren Ehemann so schrecklich eifersüchtig war. »Irma, meine süße kleine Lesbe«, stand da, »Dein Brief…
so erregend, so exotisch, so berauschend. Deine Stimme [hier fragte Tony Bring sich, ob Hildred von diesen Ferngesprächen oder diesen allerliebsten Geständnissen wußte]… Bitte, Irma, schreib mir, schreib mir oft… Erzähl mir von Dir. Weißt Du, was ich die ganze Zeit gedacht habe? Ich dachte, ich wäre vielleicht ein ganz herzloser Mensch. Dabei habe ich Dir seitenlange Briefe geschrieben und sie dann (Du kennst ja meine Temperamentsausbrüche) wieder zerrissen. Ich will Dir so viel sagen, aber zittere am ganzen Körper. Warte, ich werde es Dir mit zurückhaltenderen Worten schreiben. Nachdem ich verschwunden war…« Die nächsten Zeilen waren radiert
worden und nicht zu entziffern. Auf der nächsten Seite ging es weiter: »Irma, es ist so schön, Deinen Namen zu schreiben. Ich habe es nicht geschafft, Selbstmord zu begehen. Ich werde nie Selbstmord begehen. [Sie hatte »wieder« geschrieben, das Wort jedoch durchgestrichen.] Ich liebe Dich, Irma, ich liebe Dich so sehr. Hast Du noch ein paar meiner Gedichte? Als ich Deine Stimme hörte, bin ich ganz blaß geworden. Ich konnte Dich nicht sehen, Liebling, aber Deine Stimme ist noch dieselbe. Ich höre sie nachts, wenn ich in diesem verrückten Zimmer Hege und die Wände anfangen zu wanken. Gestern
nacht…«
Hier brach der Brief ab. In der Untertasse daneben lagen zwei Zigarrenstummel; auf der Tischplatte war ein klebriger Ring, als habe dort ein Schnapsglas gestanden. Zweifellos war eine der beiden dänischen Schwestern auf ein kleines Schwätzchen vorbeigekommen. Die ältere der beiden hatte in letzter Zeit Gefallen an Vanya gefunden.
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