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Verrückte Lust

Verrückte Lust

Titel: Verrückte Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Lügen mit Narben und spiraligen
    Reißzähnen versetzt, Deiche auf Deiche aus blutenden Harfen, aus unter Mohnblüten und Melancholie erstickten Küssen, aus vergangener Jugend, umgedrehte Bäuche, Saiten, die unter toter Musik reißen, Musik der Nacht, in den Sand geschrieben, und der Sand übersät mit Sternen, und Wellen erleuchten das Nest des Skorpions.
    Zwischen ihnen lagen tausend Jahre Melancholie, und sie wußte keine Antwort. Was hätte man antworten können, wenn das Leben ein Gedicht wäre, die Droge und das Räucherwerk endloser Gestern und Morgen? Ihre Knie berührten sich unter dem Tisch. Unter wie vielen Tischen Knie und Hände, durch Liebe verbundene Skelette, Dinge, die automatisch gehen, sich automatisch berühren, Pollen, Wurzeln, die sich in die Erde krallen, Fasern und Wirbel, grüne Säfte, rauschender Wind und Dinge, die in der Nacht herumkrabbeln und kein Geräusch machen. Regung und Bewegung, gefaltete Flügel, der Stachel des Lichts ohne Hitze, Welten, die unhörbar seufzen, und Knochen, die bleich werden, und Staub, der zum Leben
    erwacht.
    Sein ganzes Leben hing an einem Faden. In ihrer Hand hielt sie ein Stück Papier, das mit Worten bedeckt war, die sie immer wieder las und in Gedanken neu ordnete. Es gab eine Physik und Chemie der Worte; es gab eine Elektrolyse der Sprache, Gedanken wurden zu Symbolen erhoben, eingesetzt und abgesetzt, durch Blut polarisiert, im Instinkt verankert, ließen mit dem Mond ihre Ebbe und Flut durch den eintönigen, verrückten Zyklus von eingebildetem Fleisch und Leben
    fließen, von Gefängnisgitter und Fenster zum Himmel, von Sangeslust und Delirium. Sie nahm die Wörter, eins nach dem anderen, die nicht greifbare innere Harmonie aus Kathode und Wirbel und jener süßen, sichtbaren Substanz molekularen Wachstums, sie nahm sie und ordnete sie dynamisch zu einer Schrift des Lebens.
    Sie würde ihn entweder gehen lassen oder bitten zu bleiben.
    Es reichte nicht zu sagen: »Geh nicht!« Nicht annähernd. Nein, es würde etwas Gewaltiges stattfinden müssen. Sie würde auf die Knie sinken und ihn bitten und anflehen müssen. Einst, bevor einer von ihnen an Fragen und Antworten gedacht hatte, war sie vor ihm auf die Knie gesunken, auf der Straße. Sie hatte ihn ihren »Gott« genannt. Seitdem waren andere Götter zum Leben erwacht. Der große Gott war kleinen Göttern
    gewichen. Doch es gibt nur einen Gott. Es kann gar nicht anders sein, denn laut Definition ist Gott Gott.
    Die Zeit für Gewaltiges ist vorbei. »Geh für eine kleine Weile
    – aber komm zu mir zurück!« Das waren ihre Worte gewesen.
    Das Leben hatte sie also verlassen. Sie machte sich zu einem Angelpunkt, und es sollte ein stumpfes, schales Gleichgewicht herrschen, ein Abklatsch des Lebens, eine auf Geometrie reduzierte Leidenschaft. Geh für eine kleine Weile… Sie stand im Schlamm, die Augen weit aufgerissen, und wo sie Engel sah, waren in Wirklichkeit bloß Albatrosse. Im Himmel
    flatterten noch Flügel, doch was erschöpft zu ihren Füßen niederfiel, waren keine Engel.

    Plötzlich kam Vanya hereingerauscht – oder vielmehr: sie lief ein. Ein Fährschiff, das sich seitwärts an den Kai schiebt. Sie war außer Atem, knarzte ein bißchen. Die Gezeitenströmung war stark. Man hörte Holz splittern, und die Maschinen liefen rückwärts.
    »Er geht doch nicht wirklich, oder?« wollte sie wissen.
    »Doch«, sagte Hildred, »aber nur für eine kleine Weile.«
    »Nein! Lieber gehe ich. Ich will nicht, daß er geht.«
    Sie sprach erregt, wiederholte sich, verfiel in ihren
    eigenartigen russischen Akzent. Hildred hörte ihr mit tödlicher Ruhe und gefrorenen Augen zu; hinter dieser Maske
    verwandelte sich schreckliche Angst in Bitterkeit. Ihre Gedanken rasten wie eine Turbine.
    Die Idee war so simpel, so ungeheuerlich direkt und brutal, daß sie wie betäubt waren. Bis zu diesem Augenblick waren sie an Krücken einhergehumpelt; nun plötzlich befahl man ihnen, sie wegzuwerfen. Und nicht das – man verlangte von ihnen sogar, an den Rand eines Abgrunds zu treten und sich hinunterzustürzen. Ohne Vorwarnung, ohne Vorbereitung.
    Nicht einmal ein Tropfen Weihwasser, um ein Wunder zu
    beschwören, kein Knochen durfte berührt werden, und es war nicht der leiseste Hauch einer Pest zu spüren. Mann und Frau saßen da, und ihre Knie berührten sich: Sie saßen einander gegenüber wie zwei feindliche Städte, die von
    jahrhundertelanger Fehde ausgelaugt sind. Es war, als wären sie Opfer einer

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