Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verrückte Lust.

Verrückte Lust.

Titel: Verrückte Lust. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
Vom Netzwerk:
sie war zuzugeben, daß sie nichts wußten. Oder wenn sie es eingestanden, dann drückten sie sich so kompliziert und geschwollen aus, daß man ihnen unmöglich glauben konnte. Niemand vermochte so viel über nichts zu sagen wie die Männer, die so taten, als wüßten sie nichts.
     Mit diesem Geplapper auf den Lippen fiel er in einen tiefen Schlaf, in dem er träumte, er hänge an den Füßen vom Dach eines Güterwaggons. Er konnte nur den Boden und die Käfige der Männer neben ihm sehen. Der Waggon war voller Käfige, mannshoher, runder Käfige, die an der Decke befestigt waren. Alle hingen an den Füßen. Wenn der Zug schwankte, stießen die Käfige aneinander und machten leise, klingende Geräusche. Auch die Gespräche standen auf dem Kopf, oder vielleicht schien das auch nur so, weil sie alle verrückt waren. Als sie vor der Irrenanstalt angekommen waren, wurden die Käfige einer nach dem anderen hinausgetragen; an jedem wurde ein Zettel mit der Aufschrift ZERBRECHLICH befestigt. Und da waren sie nun also – alle säuberlich beschriftet und an den Füßen aufgehängt. Einer, der das Etikett »Phagomanie« trug, fragte, ob sie auch mit dem Kopf nach unten essen sollten, und der Wärter antwortete: »Natürlich, warum nicht? Wenn ihr mit dem Kopf nach unten reden könnt, könnt ihr auch mit dem Kopf nach unten essen.« Darauf wurden die Käfige im Kreis aufgestellt und ein wunderschönes weißes Pferd herbeigeführt. Seltsam war, daß es einen Pfauenschwanz hatte. Noch seltsamer war, daß es auf den Hinterbeinen tänzelte und Englisch mit ihnen sprach. Das Pferd tänzelte zu jedem Käfig, verbeugte sich und fragte in perfektem Pferdeenglisch: »Sind Sie im Gleichgewicht oder sind Sie nicht im Gleichgewicht?« Was für eine Frage! Niemand war bereit, auf einen solchen Unsinn zu antworten. Und so wurden sie weggetragen, einer nach dem anderen, und in einen Eisschrank gehängt, zum Abkühlen. Und keiner von ihnen konnte mehr sagen, ob er im Gleichgewicht war oder nicht. Es war kühl im Eisschrank, und die Käfige schwangen hin und her wie Pendel. Die Zeit verging. Eiskalte Zeit. Sie war anders als alle Zeit, die sie bisher kennengelernt hatten. Es war eine eiskalte Zeit, ohne Unterteilungen und ohne einen Stillstand. Eine kreisförmige, pränatale Zeit ohne Sprünge, ohne Puls, ohne Fluß…

    SECHSTER TEIL

    1

    Das Ende. Alles kommt zu einem Ende, wo es dann von neuem beginnt. Es ist wie eine Kreisbewegung oder wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt, oder wie das Erkennen der Ewigkeit, die unbegreiflich und unantastbar ist. Das Ende ist ein Kaninchen, das das Mondlicht vom Pflaster leckt, es ist ein Revolver, der automatisch klickt, wo das Rückgrat sich zu einer knochigen Kugel verflacht. Das Ende ist der Anfang eines Kreises, bevor der Kreisumfang gelähmt wird und zu Punkten gerinnt, die nie existiert haben und jetzt nicht existieren könnten, gäbe es keine Schiefertafeln und das, woraus man Schiefertafeln macht. Das Ende ist gekommen, wenn alle Schubladen durchwühlt sind und alles, was man mitnehmen will, in ein Taschentuch paßt, oder wenn man in seinem Hut keine Initialen mehr braucht und seine Größe eine sinnlose Gleichung geworden ist. Der Kompaß zeigt vier Himmelsrichtungen, und man kann sich in horizontaler oder vertikaler Richtung bewegen, denn es ist ja doch alles eine Illusion: Fahrscheine, Bahnhöfe, Bestimmungsort, Fahrtstrecke, Geschwindigkeit. Wenn man sich verabschiedet, ist das Ende gekommen, ein eigenartiges, unbeendetes Ende, das wie ein Bandwurm ist, der sich selbst auffrißt. Ein Ende, das sich in einen Kloß im Hals oder in ein Schluchzen verwandelt, mahlende Räder, Ruß, Bauernhöfe, Gesichter, leer, Leere, Gesichter, Bauernhöfe, Erinnerungen, Duft der Erinnerung, mahlende Räder, klickende Revolverkugeln, zu spät, alles zu spät, ändern, ändere deine Pläne, bleib, spring, kehr um, Dunst, Bauernhöfe, Gesichter, leer, Leere.
     Er hatte gerade erst die Tür geschlossen, als sie die Treppe hinaufrannte, zum Telephon. »Er ist unterwegs… er kommt… er fährt weg. Ja, er will Adieu sagen. Adieu. Ich komme. Ich bin gleich da. Adieu. Adieu.«

    Aug in Aug, Feuer in Feuer. Blutrotes Eis und schwarzes Parfüm. Mondgöttin und Mondfeuer. Der Rauch verschwundener Küsse. Die Harfe blutet ihre grüne Musik, Mohnblüten treiben auf dem kalten Meer. Die Rundheit des Anfangs, das Ende wie ein Nabel. Krater fließen über von blutrotem Eis, Halbkugeln voll warmer Milch, Schwanendaunen und

Weitere Kostenlose Bücher