Verschärftes Verhör
seinem Körper Dinge getan, die ihm noch wenige Tage zuvor völlig undenkbar erschienen waren.
So hatte er überlebt.
Es war ein strahlender Morgen. Selbst hier, Kilometer vom Meer entfernt, inmitten verfallener Fabriken und wuchernder Wohnsilos, wehte ein kühler Wind. Diesen Tag hatte Jamal sich oft ausgemalt. Der Held kehrte zurück. Mit Geld in der Tasche, das noch mehr werden sollte. Lämmer für die Schlachtbank. Ein Festessen im Hof. Es regnete Bonbons und Süßigkeiten. Nun war er hier, aber nicht als Prinz, sondern als Bettler.
Das Schamgefühl lastete schwer auf ihm, als er im Schatten des Waisenhauses stehen blieb und den Ort betrachtete, von dem er vor so vielen Jahren geflohen war. Da war das Fenster im ersten Stock, das fünfte neben dem Eingang, aus dem er fünfzehn Jahre lang die Welt betrachtet hatte. Und dort, gleich darunter, das Büro des Direktors, in dem Jamal gelernt hatte, was Erniedrigung bedeutete.
Einen Moment lang kämpfte er gegen den Drang, einfach davonzulaufen. Dann fiel ihm wieder der tote Amerikaner ein, der ausgestreckt auf dem Hotelbett in Lavapiés gelegen hatte.
Er hörte wieder die Stimme des Mannes am Fuß der Treppe, das unbeholfene Arabisch, das er nie vergessen würde. Wir sind deine Freunde, Jamal.
Nein, dachte er und trat durch das Tor mit der verwitterten Inschrift – »Waisenhaus Ain Chock« –, es hätte alles anders laufen sollen. Wenn es einen Ort gab, an dem die Amerikaner nicht suchen würden, dann diesen.
Im Hof hatte es schon immer eine weitläufige Elendssiedlung gegeben. Offiziell mussten die Jungen das Heim mit sechzehn Jahren verlassen, doch da sie kaum Zukunftschancen hatten, blieben sie oft in der Nähe, lebten von den Resten des Waisenhauses und dem bisschen Schutzgeld, das sie den kleineren Jungen abpressten. Seit Jamal das Waisenhaus verlassen hatte, war die Siedlung allerdings beträchtlich gewachsen. Sie wirkte inzwischen dauerhaft, ein eigenes Stadtviertel, mehr als nur eine willkürliche Ansammlung aus Planen und Kartons.
Gleich hinter dem Tor wurde Jamal von einer alten Frau in fleckiger Baumwoll-Dschellaba begrüßt. »Bruder«, krächzte sie und streckte die verwitterte Hand aus. Sie wiegte sich auf Beinstummeln hin und her.
Nicht nur lahm, sondern auch blind, dachte er, als er die grauen Augäpfel bemerkte. Er ließ die Münzen in seiner Tasche klimpern.
»Teta«, säuselte er liebevoll. Oma. »Was ist geschehen? Woher kommen all die Leute?«
»Wo sollen wir denn sonst hin?«
»Aber was ist mit dem Direktor? Hat er es euch erlaubt?«
»Weißt du’s nicht, Bruder? Es gibt keinen Direktor mehr.«
»Und die Jungen?« Jamal hatte törichterweise angenommen, er könnte im Waisenhaus nahtlos an sein altes Leben anknüpfen. Nun musste er erkennen, dass es unmöglich war. Dennoch, allein konnte er nicht überleben.
Die Frau zuckte die Achseln. »Manche sind noch hier, andere nicht. Viele sind gestorben.«
»In der Küche hat früher eine Witwe gearbeitet«, sagte Jamal, der sich an die kleinen Freundlichkeiten der Köchin erinnerte. »Sie hieß Rachida.«
Erneutes Achselzucken, endgültiger als beim letzten Mal. Sie hatte ihm alles gesagt, was sie wusste.
Jamal holte eine Euromünze aus der Tasche und legte sie in die ausgestreckte Hand. »As-salam alaikum«, sagte er. Friede sei mit dir.
Sie fuhr mit dem verwitterten Daumen über das fremde Geld und umschloss es mit den Fingern. »As-salam alaikum, wa rahmatullahi.« Und Gottes Erbarmen.
»Wa rahmatullahi«, gab Jamal zurück und trat auf den Hof.
Ich hätte es wissen müssen, dachte Manar, als sie die Gesichter an der Wand betrachtete. Das Gefühl des Scheiterns drohte sie zu ersticken. Sie hätte sicher sein, hätte auf jedes Foto zeigen und voller Überzeugung sagen müssen: Das ist meiner, der nicht. Eine richtige Mutter hätte das gekonnt. Sie nicht.
Manar erkannte in jedem Jungen ihr eigenes Kind und wusste doch, dass es unmöglich war. Hätte sie sie nur riechen können, dachte sie. Hätte sie nur die braune Haarsträhne beiseiteschieben und das gesegnete Mal suchen können. Dann hätte sie es gewusst.
»Was ist mit den Jungen?«, fragte sie ihren Führer.
»Das sind die, die gegangen sind.«
»Wohin gegangen?«, erkundigte sich Manar verwirrt.
Der Junge deutete zum Himmel. Einen Moment lang glaubte sie, er wolle damit sagen, sie seien gestorben.
»Nach Norden«, erklärte er schließlich.
»Du meinst, nach Europa?«
Er nickte eifrig. »In einem Jahr oder so
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