Verschärftes Verhör
gehe ich auch.«
»Das ist aber gefährlich«, warnte sie ihn. »Das weißt du, oder?«
Der Junge zuckte nur die Achseln.
Manar holte tief Luft und ließ ihre Blicke wieder über die verblichenen Fotos schweifen. Auf viele waren Nachrichten gekritzelt, Worte des Abschieds oder der Ermutigung für jene, die zurückblieben, Insiderwitze – die ganze gespielte Tapferkeit von Kindern, die wie durch ein Wunder ihren Humor bewahrt hatten.
Wie viele von ihnen hatten es geschafft?, fragte sie sich, als sie das schiefe Grinsen und die vorzeitig gealterten Augen betrachtete. Mit Glück einige wenige. Vermutlich konnte sie diese Glücklichen an ihren Fingern abzählen, und das bei einer ganzen Wand voller Fotos.
»Sind jemals welche zurückgekommen?«
Der Junge lachte, so absurd erschien ihm diese Vorstellung. »Warum denn, Schwester? Warum sollten sie zurückkommen?«
Jamal blieb in der Tür stehen und schaute in das Gebäude hinein, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Gestank war noch schlimmer als in seiner Erinnerung, er zeugte von absoluter menschlicher Verderbtheit. Er brachte es nicht über sich, hineinzugehen.
Fünf Jahre der Erniedrigung, dachte er. Plötzlich war er zu erschöpft, um sich zu bewegen. Fünf Jahre hatte er sich auf die eine oder andere Weise verkauft, hatte sich über drei Kontinente treiben lassen. Nun war er hier, fremd an einem Ort, der einst sein Zuhause gewesen war.
Er fühlte sich wie an jenem Abend in Tanger, gefangen zwischen Verzweiflung und Selbsterhaltungstrieb, nur fürchtete er diesmal, nicht genügend Kraft zu haben. Er schob die Hand in die Tasche und schätzte, wie lange das Geld des Amerikaners noch reichen würde, für wie viele Tage er sich noch Essen und Unterkunft erkaufen konnte. Drei, vielleicht auch vier. Und dann? Er sah sich nicht in der Lage, das Notwendige zu tun.
»Jamal?«
Die vertraute Stimme kam von hinten. Er drehte sich um und sah zwei junge Männer, einer in Fußballtrikot und Trainingshose, der andere in Jeans und abgetragener Lederjacke.
Der Mann im Fußballtrikot deutete auf seine Brust. »Ich bin es, Adil.«
»Adil?« Jamal blinzelte und versuchte, in dem Erwachsenen die jungenhaften Züge von früher zu erkennen. »Der Professor!«, rief er dann. Den Spitznamen hatte Adil bekommen, weil er der Klügste unter den Jungen war.
Er trat vor und umarmte Jamal.
»Was machst du hier?«, wollte Jamal wissen.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Das stimmt, aber ich habe zuerst gefragt.«
Adil lächelte warmherzig. »Es ist nur vorübergehend, so Gott will. Zum Ende des Jahres bin ich mit dem Studium fertig. Im Augenblick ist das hier billiger als das Studentenwohnheim. Und du? Ich dachte, wir würden dich nie wiedersehen.« Zu seinem Begleiter sagte er: »Jamal ist vor einigen Jahren nach Spanien hinübergefahren.«
Der junge Mann in der Lederjacke nickte, nicht verständnisvoll, sondern zornig. »Warst du die europäischen Frauen leid?«, höhnte er.
»Mahjoub kommt aus Rabat«, sagte Adil, als würde dies alles erklären, was es auch tat.
Jamal nickte. Er hatte in seinem Leben einige Mahjoubs kennengelernt und durchschaute den jungen Mann. Ihm war nicht zu trauen.
Sie standen verlegen beieinander und sahen sich argwöhnisch an, bis Adil Jamal wieder den Arm um die Schultern legte. »Du bist sicher hungrig. Komm, wir besorgen dir etwas zu essen.«
Manar drückte dem Jungen die beiden versprochenen Münzen in die Hand und sah ihm nach, als er durch den langen Flur davonhastete. Im Rechteck der Tür tauchten drei sonnenbeschienene Gestalten auf, wie Figuren auf der Leinwand eines Impressionisten. Durch den Mund atmend, stieg Manar über die Abfallhaufen hinweg, dem verheißungsvollen Tageslicht entgegen. Es ist besser so, Schwester, hörte sie die alte Frau wieder sagen. Wenn dein Sohn in Ain Chock war, solltest du es besser nicht wissen.
Der Junge hatte die Tür erreicht und drehte sich flüchtig zu Manar um, bevor er im gleißenden Licht des Hofes verschwand. Ein Überlebender, dachte sie und fragte sich, ob dies auch für ihren Sohn galt. Falls ja, hatte er den Instinkt nicht von ihr geerbt. Sie hatte starke Menschen gekannt und wusste genau, dass sie nicht zu ihnen gehörte.
Manar sah, wie sich auch die drei Gestalten zum Gehen wandten. Einer hielt sich ein bisschen abseits. Plötzlich war es, als hätte man ihr das Herz aus dem Leib gerissen. Er drehte sich um, und in dieser einen Geste erkannte sie Yusuf.
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