Verschärftes Verhör
triumphierend, als Manar ihn eingeholt hatte. Im Dämmerlicht waren nur seine Zähne zu erkennen. Er strahlte sie an und zeigte auf eine Tür, von der die Farbe abblätterte: »Direktor« stand darauf zu lesen.
Die Tür war angelehnt. Manar stieß sie mit dem Fuß auf und erblickte einen kaputten Schreibtisch und zwei Stahlschränke, umgeben von zerstreuten Papieren und staubigen Aktenmappen.
Der Junge streckte die Hand nach der Münze aus.
»Wo ist der Direktor?«, wollte Manar wissen und hielt das Geld außerhalb seiner Reichweite. Sie brauchte ihn noch.
Achselzucken. »Er war schon seit vielen Monaten nicht hier.«
»Und die Mitarbeiter? Die anderen Erwachsenen?«
Erneutes Achselzucken.
»Ihr seid also ganz allein?«
»Hat der König dich geschickt?«, erkundigte sich der Junge hoffnungsvoll. »Bist du gekommen, um uns zu helfen?«
Manar schüttelte den Kopf. Sie konnte ihn nicht belügen. »Wie lange bist du schon hier?«
»Mein ganzes Leben.«
»Ich suche jemanden. Einen Jungen, den man vor vielen Jahren hierhergebracht hat. Vielleicht kennst du ihn.«
Der Kleine schaute sie misstrauisch an. Wer es gut mit ihm meinte, fragte nicht nach so etwas.
Manar griff wieder in ihr Gewand und holte eine zweite Zehndinarmünze hervor.
»Wie alt ist er?«
»Er müsste jetzt neunzehn sein.«
»Und wie heißt er?«
»Ich kenne seinen Namen nicht.«
»Hier sind viele Jungen. Sie kommen und gehen. Ich glaube, das wird schwer. Kannst du mir sagen, wie er aussieht?«
Manar schüttelte den Kopf. »Ich würde ihn erkennen, wenn ich ihn sähe«, erwiderte sie, war aber selbst nicht davon überzeugt.
Es musste noch andere Frauen gegeben haben, die die gleiche Frage gestellt und das Gleiche zu dem Jungen gesagt hatten, denn auf einmal ging ein Leuchten über sein Gesicht. »Schwester«, sagte er, drehte sich um und bedeutete Manar, sie solle ihm folgen. »Ich muss dir etwas zeigen.«
Dank Allah und unseren neuen Freunden in Spanien sind wir sicher hinübergekommen und gut versorgt, hatte Jamal einige Zeit nach seiner Ankunft in Algeciras auf eine Postkarte geschrieben. Es war der einzige Brief, den er jemals abgeschickt hatte, und einer der älteren Jungen hatte ihm dabei helfen müssen. Es war eine Lüge, das wusste er. Er wusste aber auch, dass die Menschen, die er zurückgelassen hatte, genau das hören wollten. Nicht nur, dass ihre Freunde in Sicherheit waren, sondern dass es auch für sie einen Ausweg gab. Jamal wollte nicht derjenige sein, der ihnen die Illusionen raubte. Außerdem war die Wahrheit einfach zu demütigend.
Er hatte Nordine seit über einem Monat nicht gesehen. In Tanger hatten sie sich getrennt. Für die Reise nach Norden hatten sie fast eine ganze Woche gebraucht, hatten Mitfahrgelegenheiten erbettelt oder waren schwarzgefahren und auch ein gutes Stück zu Fuß gelaufen. Schon lange vor ihrer Ankunft waren sie verzweifelt und dem Verhungern nahe. Jamal hatte umkehren wollen, bevor sie Tanger überhaupt erreicht hatten, doch Nordine wollte nichts davon hören.
»Du malst dir immer das Schlimmste aus, kleiner Bruder«, hatte er Jamal gescholten. »Wir sind so nahe dran. Was sollte jetzt noch schiefgehen?«
Selbst der Überlebenskampf im Waisenhaus hatte die Jungen nicht auf das verzweifelte Gedränge im Flaschenhals von Tanger vorbereitet. Ganz Afrika schien in die Stadt zu strömen, und alle hatten das gleiche selbstmörderische Ziel – den schmalen und doch so tödlichen Streifen Wasser zu überqueren, der sie vom europäischen Kontinent trennte.
Wenn man hungert, gibt es im Grunde nur einen wirklich entscheidenden Moment: jenen Augenblick, in dem man seinen Stolz unwiderruflich aufgibt, um zu überleben. Jamal erlebte diesen Moment an seinem fünften Abend in Tanger, als er und Nordine sich den Touristen am CTM-Busbahnhof anboten und dabei unwissentlich ins Revier einiger älterer Jungen gerieten. Für diesen Fehler wurden sie fast bewusstlos geprügelt. Als sie später im Eingang einer Moschee in der ville nouvelle kauerten, wurde Jamal eines klar. Wenn er jetzt nichts aß, würde er den Willen zu essen verlieren und sterben.
Am nächsten Morgen ließ er seinen Freund schlafend zurück und ging in die Altstadt. Er hatte bemerkt, dass bestimmte europäische Männer in einem Café am Petit Socco ihren Morgenkaffee tranken. Zwei Stunden später hatte er in einer Einzimmerwohnung mit Blick auf die Kirche der Unbefleckten Empfängnis einen Fünfzigdinarschein verdient und dafür mit
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