Verschärftes Verhör
geschlungen, wie der Hadith es für Begräbnisse vorschrieb. Kopf und Füße waren bedeckt.
»Beeil dich!« Das war nicht mehr die Stimme seiner Mutter, sondern die eines Mannes. Dann erklangen eine zweite und eine dritte Stimme, die schnelles Arabisch sprachen.
»Lebt er?«
»Beeil dich! Zid! Zid!«
Jamal spürte, wie er hochgehoben und weggetragen wurde. Er konnte den Ozean riechen, den Salzgeruch, der sich mit dem Kupferaroma von brennendem Phosphat vermischte. Es war der unverkennbare Geruch der Heimat. In der Ferne rief der Muezzin zum ersten Gebet.
»Bruder!«, sagte einer der Männer. »Wach auf, Bruder!«
Jamal öffnete langsam die Augen. »Wo bin ich?«
Der Mann grinste, wobei er seine verfaulten Zähne entblößte, und drückte Jamals Schulter. »Casa. Wo sonst?«
Während sie weg gewesen war, hatte Manar das Autofahren verlernt. Allerdings kannte sie sich mit dem öffentlichen Nahverkehr aus und hatte seit ihrer Rückkehr viele Stunden in überfüllten Bussen verbracht, oftmals ohne ein festes Ziel. Heute aber wusste sie genau, wohin sie wollte. Sie hatte am vergangenen Abend alles genau geplant, die Strecke wieder und wieder überprüft und das Fahrgeld abgezählt.
Anfa war keine Gegend, in der die Leute öffentliche Verkehrsmittel benutzten. Wer es sich leisten konnte, dort zu wohnen, hatte nicht nur ein Auto, sondern auch einen Chauffeur. So früh am Morgen verließ ohnehin niemand das Viertel. Wer um diese Zeit unterwegs war, kam aus den ärmeren Gegenden und arbeitete als Köchin oder Hausmädchen, Gärtner oder Chauffeur. Daher war die Bushaltestelle am Boulevard d’Anfa völlig verlassen. Die Straße selbst war ebenfalls leer, die Schaufenster noch dunkel bis auf die hell erleuchtete französische Bäckerei. Manar konnte die üppig gefüllten Regale mit Pains au chocolat und Apricotines erkennen.
Sie schaute auf die Uhr und setzte sich auf die Bank. Weil sie so nervös war, hatte sie früher als nötig das Haus verlassen und musste nun mindestens zehn Minuten auf den Bus warten. Sie atmete tief ein und aus und versuchte, ganz ruhig an die bevorstehende Aufgabe heranzugehen.
Sie musste unwillkürlich daran denken, wie sie vor so vielen Jahren an ebendieser Stelle auf den Bus gewartet hatte, der sie zu Yusuf und den anderen bringen sollte. An ihrem letzten Nachmittag hatte sie auf derselben Bank gesessen, und auch damals war die Luft erfüllt gewesen vom Duft nach Butter und Zucker. Nur war ihr damals davon übel geworden.
Seit zwei Wochen hatte sie sicher gewusst, dass sie schwanger war. Damals hatten sie und ihre Schwester sich im Badezimmer ängstlich über den heimlich ins Land geschmuggelten Schwangerschaftstest gebeugt. Zwei Wochen, und noch immer hatte sie nicht den Mut gefunden, Yusuf davon zu erzählen. Dabei wusste sie, dass er überglücklich sein würde. Sie hatten schon von Heirat gesprochen. Damit wäre alles entschieden. Auch Manar hätte glücklich sein müssen, doch sosehr sie ihn auch liebte, war sie noch nicht bereit gewesen, dieses Zugeständnis zu machen.
Sie hatte vorgehabt, es ihm abends nach der Demonstration zu sagen. Doch als sie ankam, war der Streik in Gewalt umgeschlagen, und sie geriet mitten ins Chaos, bevor sie ihn gefunden hatte.
Es sollte Jahre dauern, bis sie erfuhr, was aus ihm geworden war. Ihre Mutter hatte es ihr am Tag ihrer Rückkehr gesagt. Dieser Junge, mit dem du dich getroffen hast. Sie haben ihn umgebracht. Auf der Straße erschossen wie einen Hund. Ganz lapidar. Manar war ungeheuer erleichtert gewesen, weil er nicht gelitten hatte. Denn nur das hatte sie gefürchtet, hatte immer wieder von seinem zerstörten Körper geträumt. Das war ihre größte Angst gewesen.
19
Von außen unterschied sich das Waisenhaus von Ain Chock kaum von den öffentlichen Mietskasernen in Casablanca. Es waren hochaufragende, seelenlose Bauten, die die schäbigen Slums ersetzen sollten, die Lebensumstände der Armen aber kaum verbessert hatten. Die wenigen Vorzüge, die die Elendsviertel boten – die Gemeinschaft mit anderen, eine gewisse Kultur, ein bisschen Individualität –, wurden vom architektonischen Faschismus der Regierungsgebäude zunichtegemacht. Es war ein unbarmherziges Einerlei aus grauem Zement und rußgeschwärzten Fenstern, umgeben von einer Schürze aus festgetretener Erde.
Am späten Vormittag stieg Manar aus dem letzten von drei Bussen, die sie aus der privilegierten Welt Anfas in das öde Industrieviertel am Stadtrand
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