Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
Vom Netzwerk:
Diese eine, ganz gewöhnliche Bewegung versöhnte Manar augenblicklich mit allem, was sie verloren hatte.
    In diesem Augenblick sah sie Yusufs Oberkörper in der Tür, die Schultern ein wenig gebeugt, als trüge er eine unsichtbare Last. Yusuf, wie sie ihn so oft in der winzigen Wohnung nahe der Universität gesehen hatte. Wie bei jenem letzten Mal, als sie ihm von dem Kind erzählen wollte, es aber nicht gekonnt hatte.
    »Warte!«, rief sie, doch die Gestalten waren schon verschwunden.
    Sie stolperte voran, so rasch sie konnte. Als sie die Tür erreichte, waren die drei verschwunden, und sie wusste nicht mehr, was sie wirklich gesehen hatte.
    Vielleicht war es eine Täuschung gewesen, sagte sie sich, als sie blinzelnd im Sonnenlicht stand und das Chaos im Hof betrachtete, die schiefen Fassaden und die Gassen, die sich in die Dunkelheit wanden. Vielleicht hatte sie es sich in ihrer Verzweiflung nur eingebildet. Ja, so musste es sein. Alles andere war undenkbar.

20
Vietnam 1975
    Auf seinem Posten in Xuan Loc hatte Harry mit einer nie gekannten und absoluten Klarheit das Ende kommen sehen. Andererseits hätten im Herbst 1974 auch nur Trottel oder die wenigen Verrückten in der Botschaft auf einen anderen Ausgang gehofft. Noch bevor der Kongress im Dezember endgültig für die Einstellung der Militärhilfe an Südvietnam stimmte, waren sich Harry und seine Kollegen schmerzlich bewusst gewesen, dass der kommende Winter ihr letzter in Vietnam sein würde.
    Die internationale Gemeinschaft stürzte sich in diesen wenigen letzten Monaten in einen Rausch aus Alkohol und Adrenalin. Später sollte Harry erkennen, dass dieses Verhalten typisch für die wenigen Glücklichen gewesen war, die wussten, dass sie das Land sicher verlassen und so die prickelnde Spannung des fernen Krieges genießen konnten. Sie mussten sich nicht um die Konsequenzen kümmern. Für die Vietnamesen hingegen war es ein schwerer Schlag, dass die Amerikaner ihr Land verlassen würden.
    Er und An sprachen nicht über die Ereignisse. Die Vietnamesen legte eine stoische Haltung an den Tag, die Harry völlig fremd war und die er nie wieder erleben sollte. Dennoch war ihre Angst nicht zu übersehen. An war das einzige überlebende Kind ihrer Familie, und die alten Eltern waren vollkommen von ihr abhängig. Beide wussten, dass es den heranrückenden Nordvietnamesen vollkommen gleichgültig wäre, ob An ihre Stelle aus Überzeugung oder aus Notwendigkeit angetreten hatte. Selbst wenn man sie nicht tötete, würde es für An und ihre Eltern nicht gut ausgehen.
    Anfang März, mehrere Tage, nachdem die Volksarmee nahezu widerstandslos ins zentrale Hochland vorgedrungen war, entdeckte Harry An in der Küche. Sie stand regungslos am Spülbecken, starrte hinaus in den regennassen Garten, die Arme bis zu den Ellbogen im kalten Spülwasser.
    »Ich kann dich hier rausholen«, hatte er zu ihr gesagt. Es war eine gewagte Aussage, da er nicht wusste, ob es tatsächlich möglich war. Natürlich hatte es geheißen, man wolle alle herausholen, doch jeder vernünftige Mensch wusste, dass es nicht unendlich viel Platz gab. Harry konnte sich jedoch nicht bremsen. »Und auch deine Eltern«, hatte er vorschnell hinzugefügt. »Wir werden uns um euch kümmern.«
    Sie hatte sich nicht gerührt. Es war, als würde sie ihm nicht glauben, und Harry hatte gedankenlos hinzugefügt: »Das verspreche ich dir.«
    Da hatte sie ihn angeschaut, nicht dankbar, sondern mit einer wilden Resignation, als wüsste sie bereits, dass er sie verraten würde, und empfände das Versprechen als Beleidigung.
    Zum Glück klingelte das Telefon.
    Selbst die unentwegten Optimisten in der Botschaft sorgten sich wegen der Situation im Norden, und Harrys Telefon stand nicht mehr still, seit Nachrichten von der Invasion ihren Weg nach Saigon und die Außenwelt gefunden hatten. Daher war er überrascht, als sich diesmal kein Kollege, sondern Susan meldete.
    Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte am Wochenende kommen wollen, es sich aber zweifellos anders überlegt.
    »Vermutlich bleibst du besser in der Stadt«, sagte er hastig, um sie zu beschwichtigen. Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Vielleicht kann ich nächste Woche zu dir kommen.« Vermutlich für immer, fügte er in Gedanken hinzu.
    »Wir werden heiraten, Harry.«
    Er brauchte einen Augenblick, bis die Worte zu ihm durchgedrungen waren. »Wie bitte?«
    »Ich wollte es dir selbst sagen.« In ihrer Stimme lagen Großmut und auch eine

Weitere Kostenlose Bücher