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Verschärftes Verhör

Verschärftes Verhör

Titel: Verschärftes Verhör Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Siler
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befördert hatten. Eigentlich hätte sie nervös sein müssen, als sie sich dem eindrucksvollen Tor des Waisenhauses näherte, war es aber nicht. Unter der weiten Dschellaba und dem dunklen Kopftuch summte ihr ganzer Körper in geradezu ekstatischer Ruhe. Ungefähr so musste sich ein Sufi-Tänzer fühlen oder ein Mensch, der im Auge eines tosenden Sandsturms stand. Es war jener Friede, den man am Mittelpunkt der Welt verspürte, wenn alles einen umkreiste.
    Hinter dem Tor lag ein Hof, auf dem ein illegales Dorf entstanden war, das elender aussah als alles, was Manar je erlebt hatte. Nicht nur Kinder, auch Alte, Kranke und Lahme hatten sich in den Mauern des Waisenhauses eingefunden. Im Eingang der Hütte, die dem Tor am nächsten stand, wachte eine alte blinde Frau ohne Beine über ein jämmerliches Feuer. Weiter drinnen hielt ein junges Mädchen, dessen Mondgesicht vom Down-Syndrom zeugte, ein schreiendes Baby im Arm. Der Junge neben ihr häutete eine Ratte.
    Die Siedlung schien unkontrolliert zu wachsen wie ein lebendes Wesen, ein wildwuchernder Pilz, der sich in alle Richtungen ausbreitete und in dem das Neue das Alte auslöschte, bis der gesamte Organismus unter dem Gewicht seines eigenen Ehrgeizes zusammenbrach.
    Manar war erst wenige Meter gegangen, als sie von einem Dutzend Jungen umringt wurde. »Dinar«, bettelte einer von ihnen. Mit neun oder zehn Jahren war er der Älteste der Gruppe. Er hob sein Hemd und deutete auf den eingefallenen Bauch, dann folgte die universelle Geste für Nahrung. Er war ein erfahrener Bettler, die Geste reines Theater, dachte Manar. Sein Gesichtsausdruck aber verriet ihr, dass der Hunger nicht gespielt war.
    Sie zog eine Zehndinarmünze aus ihrem Gewand. Am liebsten hätte sie allen zu essen gegeben, durfte sich aber kein Mitleid gestatten. Damit würde sie nichts erreichen. »Bring mich zum Direktor«, wies sie den ältesten Jungen an und hielt die Münze so, dass er sie nicht ergreifen konnte.
    Er sprach zischend mit den anderen, die daraufhin so rasch, wie sie aufgetaucht waren, in den engen Gassen verschwanden, die vom Hauptweg der Siedlung abzweigten.
    Der Junge schaute Manar an und marschierte los. Er überlegte wohl, wie er den größtmöglichen Profit aus ihr herausholen konnte. Wie oft hatte sie das Gleiche getan? Sie hatte versucht, jeden neuen Wärter einzuschätzen und herauszufinden, was es brauchen würde, wie viel von ihrem stetig schwindenden Selbst sie noch opfern könnte und was sie dafür bekäme. Ein zusätzliches Stück Brot. Einen einzelnen Orangenspalt. Den Trost, einmal ihren Namen aus dem Mund eines anderen Menschen zu hören.
    Der Junge war schnell, seine nackten Füße wichen geschickt den Müllhaufen und zertretenen Fäkalien aus. Als sie den Eingang des Gebäudes erreichten, war Manar außer Atem.
    »Hier, Schwester. Hier entlang.« Der Junge blieb in der offenen Tür stehen und winkle sie heran.
    Manar trat über die Schwelle und wich instinktiv zurück, so stark war der unverkennbare Gestank des Todes. Sie wusste aus Erfahrung, dass sich die Nase an fast jeden Geruch gewöhnen konnte: Urin, Kot, Fäulnis, ungewaschene Körper. Nie aber an den Gestank einer menschlichen Leiche. Niemals. Kein Wunder, dass die Bewohner ausgezogen waren.
    Sie bedeckte Nase und Mund mit einem Zipfel der Dschellaba und zwang sich, einen Schritt ins Gebäude zu machen. Strom schien es nicht zu geben. Die meisten Lampen und Leitungen waren aus Wänden und Decke gerissen und auf dem Basar verhökert worden, so dass nur nackte Löcher übrig blieben. Wenn das nicht ging, hatte man einfach die Birnen herausgeschraubt.
    Durch die geöffneten Türen konnte Manar Reihen verschimmelter Matratzen und Berge von schmutzigem Bettzeug erkennen, dazu die skelettierten Überreste einiger trauriger Spielzeuge. Es schien absolut undenkbar, dass ein Kind in diesem Dreck leben konnte, und doch waren hier und da zusammengekauerte Gestalten zu sehen – ein einzelner Junge oder eine Gruppe von Jungen. Nein, keine Kinder, nur die zerlumpten Geister von Kindern.
    Ihr Führer achtete nicht auf den Schmutz, sondern lief eilig voran, blieb aber zwischendurch stehen und wartete auf sie. Der Boden unter seinen nackten Füßen war mit Scherben und gesprungenen Fliesen übersät.
    »Pass auf!«, warnte ihn Manar, was vollkommen lächerlich war.
    Er schaute sie an, als stellte sie seine Geduld auf eine harte Probe, und tauchte dann in eine kleine Nische am Ende des Flurs.
    »Hier!«, rief er

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